Bindungstheorie, Bindungstyp und Beziehungsgestaltung

„Es gibt im wesentlichen zwei Gruppen von Einflüssen, die für die Art des Funktionierens der sich entwickelnden Persönlichkeit entscheidend sind. Die erste Gruppe bezieht sich auf die – partielle oder totale – Anwesenheit oder Abwesenheit einer vertrauenswürdigen Person, die bereit und in der Lage ist, als die Art von sicherer Basis zu dienen, die in jeder Phase des Lebenszyklus erforderlich ist. Dies sind die äußeren oder Umwelteinflüsse. Die zweite Gruppe bezieht sich auf die relative Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Individuums, erstens zu erkennen, wann eine andere Person vertrauenswürdig sowie bereit ist, als Basis zu dienen, und zweitens – wenn sie dies ist – mit jener Person so zu kollaborieren, dass eine für beide Seiten lohnende und dauerhafte Beziehung entsteht. Dies sind die inneren oder organismischen Einflüsse.“ – John Bowlby: Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen.

In Einem sind sich die unterschiedlichen Psychotherapieverfahren nahezu einig: gute Beziehungen und unsere Fähigkeit, diese einzugehen und aufrechtzuerhalten, sind für psychisches Wohlergehen unerlässlich. Und sie sind es auch für die Entwicklung unserer Psyche und ihrer Funktionen, wie z. B. John Bowlby mit seiner Bindungstheorie dargestellt hat.

Im Fokus der Bindungstheorie steht die Mutter-Kind-Beziehung und ihre Störungen. Bindung stellt dabei eine haltgebende, sichere Beziehung dar, die in Stresssituationen (Unwohlsein, Angst, Schmerz) aufgesucht wird. Mit Lächeln, Schreien, Krabbeln und anderen Gesten drückt das Kind seinen Bindungswunsch aus, über Blick- oder Körperkontakt wird Bindung hergestellt. Die Bezugsperson hilft mit Empathie und „Containment“ die vom Kind dargebotenen Gefühlszustände zu regulieren, also ein Wohlgefühl wiederherzustellen. Bei einer hinreichend guten Mutter-Kind-Beziehung entwickeln sich:
Objektkonstanz: die Bezugsperson wird verinnerlicht, sodass emotionale Sicherheit auch in ihrer Abwesenheit hergestellt werden kann, aber auch ihr Rat und ihre Ge- und Verbote erinnert werden;
– die Fähigkeit zur Selbstberuhigung;
stabile Bindungsmuster als Basis für spätere Beziehungen.

Die Forschungsgruppe um Bowlby unterschied vier Bindungstypen:
sicher gebundener Bindungstyp: Nähe und Distanz zur Bezugsperson können angemessen reguliert werden.
unsicher-vermeidender Bindungstyp: Es wird Pseudounabhängigkeit demonstriert, Kontaktvermeidungsverhalten herrscht vor, und Stress wird über Kompensationsstrategien abgebaut. Ursächlich sind wiederholte Ablehnungserfahrungen; das Kind lernt schließlich, dem Schmerz der Abweisung durch Beziehungsvermeidung zu entgehen.
unsicher-ambivalenter Bindungstyp: Sehnsucht und Ablehnung gegenüber der Bezugsperson wechseln sich ab. Ursächlich sind unberechenbare, willkürliche Beziehungserfahrungen mit der Bezugsperson; das Kind muss ständig die Befindlichkeit seiner Bezugsperson erahnen, wird von schwierigen eigenen und fremden Gefühlszuständen überfordert und erlebt sich in der Beziehungsgestaltung hilflos und einflusslos.
desorganisierter Bindungstyp: es zeigt sich kein zusammenhängendes, eindeutig zuzuordnendes Bindungsverhalten. Traumatisierungen oder schizophrene Zustände in der Herkunftsfamilie werden angenommen.

Der eigene Bindungstyp stellt schließlich die Basis für die spätere Beziehungsgestaltung dar. Er ist Teil des nicht-verdrängten Unbewussten, zeigt bis ins Erwachsenenalter eine relative Stabilität und wird bei Stress aktiviert. Kann Stress durch gute Beziehungserfahrungen nicht reguliert werden, können psychische oder psychosomatische Erkrankungen entstehen.

Das Bindungsmodell nach Bartholomew und Horowitz formuliert, ausgehend von Selbst- und Objektrepräsentanzen, ein vier-Quandranten-Modell, das den Übergang zur psychotherapeutischen Arbeit am Bindungstyp veranschaulicht:

Bindungsmodell

Die psychodynamischen Psychotherapien – Psychoanalyse und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – sind beziehungsorientierte Psychotherapien, in der sich auch der Therapeut zur Selbsterfahrung des eigenen Bindungstyps sowie für korrigierende Beziehungserfahrungen zur Verfügung stellt. Arbeitswerkzeuge wie Übertragung/Gegenübertragung, freie Assoziation, struktur- und konfliktorientierte Interventionen ermöglichen die Entwicklung von Verständnis und Korrektur des Bindungstyps sowie Verbesserung der eigenen Beziehungsgestaltung. Die aufdeckende, d. h. deutende Arbeit an unbewussten Selbst- und Objektrepräsentanzen, also Vorstellungen von sich selbst und den Anderen, die die Beziehungsgestaltung steuern, ist hier ein zentrales Element, aber auch die strukturbezogene Arbeit an den eigenen Gefühlen, z. B. das Lernen von Erkennen- und Benennenkönnen von eigenen und fremden Gefühlszuständen.