Einführung in Psychodynamische Psychotherapie: Grundlagen und Ätiologie

Inhalt

1. Psychodynamische Psychotherapie: Grundlagen

Schlagworte
Unbewusstes, Vorbewusstes, Eisbergmodell, Zensur / Abwehr, Primärprozess, Sekundärprozess, Vergangenheitsunbewusstes, Gegenwartsunbewusstes, Selbst- und Objektrepräsentanzen, dynamisches Unbewusstes, nicht-verdrängtes Unbewusstes, kreatives Unbewusstes, Einsichtsarbeit, Beziehungsarbeit

Im Wort „Dynamik“ stecken Bedeutungen wie Kraft, Bewegung, Antrieb und Energie, mit denen sich das Wesen der Psychodynamischen Psychotherapie charakterisieren lässt: die Auseinandersetzung mit innerseelischen Wirkmächten. Psychotherapieverfahren, die psychodynamisch arbeiten, gehen demgemäß von einem Kräftespiel hinter vordergründigen Erscheinungen wie Verhalten oder Symptomen aus, welches ursächlich an deren Entstehen beteiligt ist. Dieses Kräftespiel ist im Alltag oder zu Behandlungsbeginn in der Regel nicht bewusst und muss zunächst z. B. im Rahmen eines therapeutischen Prozesses erschlossen werden; erst dann sind nachhaltige Verhaltens- oder Symptomveränderungen möglich. Psychodynamische Psychotherapien arbeiten daher mit dem Unbewussten, das als Ort des innerseelischen Kräftespiels definiert wird. Freud veranschaulichte das Verhältnis bewusster zu unbewusster psychischer Prozesse mit dem Eisbergmodell, demgemäß nur ca. 1/7 bewusst, an der Oberfläche, und 6/7 unbewusst, verborgen, sind. Zwischen beiden Bereichen befindet sich das Vorbewusste mit potentiell bewusstseinsfähigen Inhalten. Am Übergang zwischen Unbewusstem und Vorbewusstem sowie Vorbewusstem und Bewusstem entscheidet jeweils ein Zensor über die Bewusstwerdung psychischer Inhalte. Dem System Unbewusst ordnete Freud das Verdrängte sowie den Primärprozess, in dem „Wunschentwicklung bis zur Halluzination“ und „Unlustentwicklung, die vollen Abwehraufwand mit sich bringt“ stattfinden, dem System Vorbewusst-Bewusst den Sekundärprozess, der „jene Vorgänge [umfasst, CD], welche allein durch gute Besetzung des Ich ermöglicht werden und Mäßigung der obigen darstellen“, zu.

Sandler und Sandler1 unterteilten das Unbewusste noch in ein Vergangenheitsunbewusstes, dem sie Fantasien, Wünsche, Gefühle, Denk- und Abwehrstrategien der Kindheit zuordnen (sie sprechen auch vom „Kind im Erwachsenen“, welches der sog. ersten Zensur unterliegt), und ein Gegenwartsunbewusstes, das die Abkömmlinge kindlicher Wunsch- und Beziehungsfantasien in der Gegenwart reguliert, indem es sie in sozial verträgliche und selbstwerttaugliche Formen umwandelt (auch als zweite Zensur bezeichnet).

Zensur- bzw. Abwehrvorgänge spielen in der intrapsychischen Regulation insgesamt eine bedeutende Rolle: sie sorgen dafür, dass belastende Inhalte dem Bewusstsein ferngehalten werden, verhindern damit aber oft auch die Entwicklung eines reiferen Umgangs mit ihnen. Abwehr-/ Regulationsfunktionen können auch versagen, was zu einem überfordernden Aufsteigen problematischer seelischer Inhalte ins Bewusstsein führt: „Alle Neurosen sind beschreibbar als fehlgeleitete Versuche des Ich, Angst, Unlust, Beschämung und psychischen Schmerz zu vermeiden.“2 Ein ätiologisches Grundkonzept der Psychodynamischen Psychotherapie ist somit, dass lebensgeschichtlich frühe oder aus dem Erwachsenenleben stammende konflikthafte Zustände und Impulse verdrängt im Unbewussten als Krankheitsquelle wirksam werden können.

Neben verdrängten Inhalten sind im Unbewussten auch frühe Beziehungserfahrungen gespeichert. Diese impliziten Gedächtnisinhalte bestehen aus Selbst- und Objektrepräsentanzen (s. a. Kap. 1.4), die jeweils durch einen Affekt verbunden sind. Ihre Ausdifferenzierung spielt bei der psychischen Entwicklung eine bedeutende Rolle, wie z. B. Otto Kernberg herausgearbeitet hat. Von ihnen ausgehende Entwicklungspathologien können zur Entstehung von Strukturellen bzw. Persönlichkeitsstörungen führen, die mit ausgeprägter psychischer Beeinträchtigung einhergehen können.

Zusammengefasst zählen zum Unbewussten3

  • ein dynamisches Unbewusstes, das verdrängte konflikthafte Impulse sowie Bedürfnisse um Selbstwertregulation, Sicherheitsempfinden, Vermeidung unangenehmer Affekte und Fantasien von primärprozesshafter Qualität enthält,
  • ein nicht-verdrängtes Unbewusstes, in dem interaktionelle Muster mit den frühen Bezugspersonen („implicit relational knowledge“) und nonverbale Objektbeziehungsstrukturen – „die Grammatik unseres Ichs“ – gespeichert sind, sowie
  • ein kreatives Unbewusstes, dem eine zur eigenen Authentizität vermittelnde Wirkung zugesprochen wird, was C. G. Jungs Vorstellung vom Unbewussten und seinem Konzept vom Individuationstrieb entspricht.

Die Aufgabe Psychodynamischer Psychotherapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung definiert sich in der Behandlung von Krankheitssymptomen infolge konflikthaft verarbeiteter Lebens- oder Beziehungserfahrungen sowie aktueller Konflikte. Im Zentrum der therapeutischen Arbeit stehen Einsichtsarbeit und therapeutische Beziehungsarbeit.


Grafik: C. Dürich, Hintergrundbild: www.pixabay.com

1.1 Ätiologie 1: Trauma

Schlagworte
Katharsis, Nachträglichkeit, Affekt-Trauma-Modell, Verführungstheorie, Aktualneurose, Strain-Trauma, Kumulatives Trauma, Entwicklungstrauma, Bindungstrauma, Retrospektives Trauma, Vernichtungsängste, Entsymbolisierung, Resomatisierung, Wiederholungszwang, Traumatische Introjektion, Identifikation mit dem Aggressor, Masochismus, Sadismus, Dissoziation

Freud und Breuers erste Behandlungstechnik fokussierte verdrängte (frühe) Traumata als Ursache psychopathologischer Phänomene. Über freies Assoziieren unter Trance entstand die „Talking Cure“, deren Ziel das Erinnern und Wiedererleben der belastenden Erfahrungen war. Hierdurch sollte im Sinne einer Katharsis der zugehörige „eingeklemmte“ Affekt abreagiert werden, was zur Heilung führen sollte. Als symptomauslösend wurden Überforderungen oder traumatische Erfahrungen der Gegenwart, die verdrängte frühe Traumata aktivieren und dann durch sie verstärkt werden, angenommen (Konzept der Nachträglichkeit). Der psychische Apparat wird in der Folge mit Erregung, die er nicht mehr regulieren kann, überflutet, was schließlich zur Krankheitsentwicklung führt. Die Krankheitssymptome selber sind Reste und Erinnerungssymbole von traumatischen Erlebnissen, nach Freud Reminiszenzen, die nicht genügend abreagiert worden sind. Dieses erste psychoanalytische Behandlungskonzept wird auch Affekt-Trauma-Modell genannt. Als ursächliches Trauma wurde zunächst vor allem sexueller Missbrauch in der Kindheit angesehen (Verführungstheorie), infolge der traumatisierten Soldaten des ersten Weltkriegs wurden aber auch noch lebensgeschichtlich spätere Traumata anerkannt. Charakteristikum letzterer ist ein Durchbrechen des Reizschutzes des Ichs, womit der Fokus bei diesen mehr auf der gegenwärtigen denn einer frühen Belastung liegt (Aktualneurose). Freud sprach hier von einer unerwarteten Zufuhr neuer Reizgrößen, die eine angemessene Verarbeitung verhindert. Schließlich wurden noch Traumata durch Dauerbelastung (Strain-Trauma), Häufung von Reizüberflutungen (Kumulatives Trauma), Deprivation / Vernachlässigung (Entwicklungstrauma), Bindungstraumata und frühe Traumata, die erst im Erwachsenenleben als solche in ihrer Bedeutung erkannt werden (Retrospektives Trauma), ausformuliert.

Mathias Hirsch4 fasst resümierend drei Wirkfaktoren in dieser traumatheoretischen Orientierung zusammen: Inhalt und Intensität des ursprünglichen Traumas, Stärke des Ich sowie spätere Lebenserfahrungen.

Marvin Hurvich5 sieht Vernichtungsängste und -fantasien als zentralen Inhalt traumatischer Erlebnisse an und definiert Vernichtungsangst als Traumamarker. Vernichtungsangst umfasst Ängste um Überleben und Sicherheit, aber auch um Integrität des Selbstgefühls sowie um Intaktheit von Ich-Funktionen und Objektbeziehungen. Sie spielt nachweislich bei allen Formen schwerer Psychopathologie eine ausschlaggebende Rolle und geht mit dem Verlust der Symbolisierungsfähigkeit (Entsymbolisierung) sowie einer Resomatisierung (s. a. Kap. 1.4) des Gefühlslebens einher. Hirsch stellt daher u. a. die Wiederherstellung der Symbolisierungsfähigkeit und Affektwahrnehmung ins Zentrum einer psychoanalytischen Traumatherapie.

Traumata, die nicht erinnert werden, werden durch Handlungen unbewusst reproduziert, wodurch das Unbewusste die gestaute Erregung abzureagieren oder zumindest zu binden hofft (Wiederholungszwang). Sándor Ferenczi sah im Wiederholungszwang aber auch den Versuch, eine liebende Beziehung zum Täter bzw. einem späteren Stellvertreter wiederherzustellen.

Während in der Freudschen Traumatheorie mehr ein psychoökonomischer und Ich-psychologischer und somit intrapsychischer Blickwinkel (Stauung von Erregung, Durchbrechen des Reizschutzes) dominiert, leitet die Traumatheorie nach Ferenczi eine objektbeziehungstheoretische Sichtweise ein und betont das Beziehungsgeschehen zur traumatisierenden Person6. Im Falle innerfamiliärer Traumatisierung wird das Kind versuchen, eine gute Beziehung zu dieser aufrechtzuerhalten – oftmals ist es nämlich vom Täter und seinem Wohlwollen abhängig -, was die nachfolgenden Abwehrprozesse begründet, durch welche schließlich die Traumafolgesymptomatik verursacht wird. Diese sind:

  • Traumatische Introjektion: das schlechte Objekt und seine Gewalt werden als Fremdkörper in den eigenen psychischen Innenraum aufgenommen, um es im Außen zu entschärfen und ihm dort nicht ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig nimmt das Opfer so die Schuld- und Schamgefühle in sich auf, die der Täter nicht empfindet, welcher im Gegenzug wiederum die Vitalität des Opfers aufsaugt.
  • Identifikation mit dem Aggressor: das Opfer kann sich nun dem traumatischen Introjekt unterwerfen und somit versuchen, durch Masochismus Ohnmachtsgefühle zu lindern – Masochismus hat so eine antidepressive Wirkung -, oder sich durch Identifikation mit ihm in Form von Sadismus mächtig zu fühlen.
  • Dissoziation: Anteile des eigenen Selbst (z. B. das Körperselbst, das emotionale Erleben), die mit dem Trauma in Verbindung gebracht werden, werden abgespalten, und das erlebte Böse wird auf sie projiziert, wodurch ebenfalls das schlechte Objekt als gut erhalten bleiben soll.

1.2 Ätiologie 2: Konflikt

Schlagworte
Topographisches Modell, Instanzenmodell, Es, Ich, Über-Ich, Konfliktpathologie, Trieb-Abwehr-Konflikt, Versuchungs-/Versagungssituation, Regression, Kompromiss, Übertragung, Phasenlehre, Ödipuskomplex, Motivationssysteme nach Lichtenberg, Konfliktachse des OPD-2

Freuds Unterteilung der Psyche in Bewusstes, Vorbewusstes und Unbewusstes nennt sich Topographisches Modell, später entwickelte er das Instanzenmodell mit Es, Ich und Über-Ich. Das Es als Heimat von Affekten, Trieben und Bedürfnissen wird vollständig dem Unbewussten zugerechnet und unterliegt dem Primärprozess. Das Ich als Vermittler zwischen Es und Über-Ich sowie Zentrum psychischer Funktionen wie Wahrnehmen, Denken und Selbstreflexion ist hauptsächlich bewusst und nur anteilig vor- und unbewusst. Das Über-Ich als Vertreter von Gewissen, Verboten und Anforderungen schließlich ist anteilig bewusst, mehrheitlich aber vor- und unbewusst. Innerhalb der Instanzen und zwischen ihnen können aufgrund unterschiedlicher Bestrebungen Konflikte entstehen, die zu intrapsychischen Spannungen führen (Konfliktpathologie). Während innere Konflikte die Pathologie der Neurose ausmachen, besteht in der Psychose der Konflikt mit der Realität und in der Persönlichkeitsstörung zwischen guten und schlechten Aspekten von Selbst und Objekt (s. a. Kap. 1.4).

Gemäß Freud besteht für den Menschen ein grundsätzlicher, lebenslanger Konflikt zwischen Lustprinzip / Primärprozess und den Anforderungen von Realität und Kultur. Dieser spielt insbesondere in der Kindheit und psychischen Entwicklung eine bedeutende Rolle und führt dort zur Entstehung von Trieb-Abwehr-Konflikten, in denen kindliche Wünsche mit der erlebten Zurückweisung verbunden und ins Unbewusste abgewehrt werden. Trieb-Abwehr-Konflikte können im Erwachsenenleben durch Versuchungs-/Versagungssituationen, in denen der abgewehrte Wunsch entweder stark angeregt oder frustriert wird, wieder aktiviert werden und eine pathogene Wirkung entfalten. Diese entsteht dadurch, dass mit der Konfliktaktivierung auch der Rückgriff auf kindliche Lösungsversuche einhergeht (Regression) – da ein erwachsener Umgang mit den bislang abgewehrten Motiven nicht entwickelt werden konnte -, was schließlich zu Angst- und Spannungsentwicklung führt, die in Symptombildung mündet. Das Symptom bindet dabei Angst und Spannung und stellt als Kompromiss zwischen den widerstrebenden inneren Anteilen den besten Lösungsversuch, den das Individuum zu diesem Zeitpunkt hat, dar. Als Übertragung wird der kindliche Konflikt so in die Gegenwartsbeziehungen getragen, wodurch diese verzerrt erlebt werden.7

Für die aus dem Es stammenden potentiell konflikthaften Wünsche gibt es verschiedene Konzeptualisierungen. Drei bedeutende sind:

  • Freuds Phasenlehre: Freud kategorisierte die Triebe des Es entlang der psychosexuellen Entwicklung des Menschen. Diese umfasst die Orale Phase (Geburt bis 1,5 Jahre: Saugen, Beißen, Lutschen), Anale Phase (1,5 bis 3 Jahre: Stuhlhalten und Defäkation als Ausdruck von Autonomie und Kontrolle) und Phallische Phase (3 bis 5 Jahre: beginnende genitale Erregung). Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Ödipuskomplex, in dem Liebe, Zuneigung und Begehren gegenüber i. d. R. dem gegengeschlechtlichen Elternteil und Rivalität gegenüber i. d. R. dem gleichgeschlechtlichen empfunden werden. Das Durchlaufen des Ödipuskomplex führt schließlich zur Anerkennung der Generationengrenzen, Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, Entstehung der Geschlechtsidentität und Befähigung zur Triangulierung.
  • Motivationssysteme nach Lichtenberg: 1.) Befriedigung physiologischer Bedürfnisse, 2.) Bedürfnis nach Bindung, 3.) Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration, 4.) Bedürfnis nach Widerspruch und Rückzug, 5.) Bedürfnis nach Sinnlichkeit und sexueller Erregung.
  • Konfliktachse des OPD-2: im OPD-2 werden 7 Grundkonflikte beschrieben, die auf existenzielle Lebensthemen zurückgehen, denen jeweils eine Dialektik innewohnt. Als bewältigt gelten sie, wenn sich das Individuum flexibel zwischen beiden Polen des Konflikts bewegen kann, als pathogen, wenn eine einseitige Fixierung in einem der beiden Pole besteht. Die 7 Grundkonflikte sind Individuation vs. Abhängigkeit, Dominanz vs. Unterwerfung, Autarkie vs. Versorgung, Selbstwertkonflikt, Schuldkonflikt, Ödipaler Konflikt, Identitätskonflikt. Es werden im Rahmen der pathogenen Fixierung ein aktiver, pseudoprogressiver und passiver, regressiver Bewältigungsstil unterschieden.

Im Rahmen des Konfliktgeschehens wird ein Anteil ins System Vorbewusst-Bewusst zugelassen, der andere ins dynamische Unbewusste abgewehrt. Bei den dialektischen Grundkonflikten kann dies z. B. bedeuten, dass Strebungen nach Eigenständigkeit/Individuation zugelassen, erlebt und gelebt werden können, Strebungen nach Bindung/Abhängigkeit hingegen nicht.

Gerd Rudolf8 hat die Konfliktachse entwicklungspsychologisch noch in den Grundkonflikt der Nähe (Individuation vs. Abhängigkeit, erstes Lebenshalbjahr), den Grundkonflikt der Bindung (Versorgung vs. Autarkie, depressiver Grundkonflikt, 2. Lebenshalbjahr bis 2. Lebensjahr), den Grundkonflikt der Autonomie (Unterwerfung vs. Kontrolle, Schuldkonflikt, 2. – 3. Lebensjahr) und den Grundkonflikt der Identität (Ödipaler Konflikt, Identitätskonflikt, 3. – 6. Lebensjahr) zusammengefasst.

1.3 Ätiologie 3: Ich und Struktur

Schlagworte
Ich-Psychologie, Abwehrmechanismen, Affektersetzung, Ich-Funktionen, Ich-strukturelle Störung, Entwicklungspathologie, Ersatzbildungen, Über-Ich-Defekt, Impulskontrollstörung, Strukturbezogene Psychotherapie, Strukturniveau, Niveau der Persönlichkeitsorganisation nach Otto Kernberg

In seinem Spätwerk wandte sich Freud als Drittes nach Trauma und Konflikt zunehmend der Entwicklung des Ich zu. Die Ich-Psychologie wurde dann vor allem Gegenstand der nachfolgenden Generationen, so z. B. bei seiner Tochter Anna, die die Abwehrmechanismen als Funktionen des Ich differenziert ausformulierte9. Sie betonte die Wichtigkeit der Beherrschung der Innenwelt und Anpassung an die Außenwelt, womit der Abwehr nun auch ein funktionaler Aspekt zukommt.

Heute wird Abwehr ganz allgemein als Teil der Emotionsregulierung verstanden, dient sie schließlich dazu, Angst/Spannung/Unlust, letztlich belastende Emotionen unbewusst zu machen, wodurch diese wie abgewehrte Triebimpulse ins dynamische Unbewusste geraten. Die belastenden Emotionen sind dabei Auslöser des Abwehrvorgangs, Emotionen können aber auch der Abwehr dienen: so kann z. B. Ohnmacht durch Wut abgewehrt werden (Affektersetzung). Abwehr selber ist Teil des nicht-verdrängten, prozeduralen Unbewussten, sodass ihr Wirken wie die abgewehrten Inhalte im Normalfall vollständig unbewusst bleiben. Misslingt ein Abwehrvorgang, werden als Konsequenz Emotionen bewusst.10

„Neurotische Erkrankungen sind gekennzeichnet von bestimmten chronifizierten und nicht endgültig erfolgreichen Abwehrmechanismen.“11 Abwehrmechanismen sind dabei pathoplastisch für bestimmte Störungsbilder. So lassen sich Verdrängung und Verleugnung histrionischen Störungsbildern zuordnen, Vermeidung und Verschiebung phobischen, Wendung gegen das Selbst und Identifizierung mit dem Aggressor depressiven, Reaktionsbildung, Intellektualisierung, Rationalisierung, Isolierung und Ungeschehenmachen zwangsneurotischen, Projektion paranoiden, Soziale Isolierung und Affektverdrängung schizoiden sowie Spaltung dem Borderline-Syndrom12. Der Ich-psychologische Behandlungsansatz, dessen Ziel die Förderung von Ich-Stärke und Autonomie ist, kann hier helfen, eine gelingendere Bewältigung belastender Emotionen/Impulse/Konflikte zu entwickeln. Dies bedeutet, dysfunktionale, rigide Abwehr zu konfrontieren und reifere Bewältigungsstrategien anzuregen und zu fördern.

Für Freud war das Ich zunächst Schauplatz innerer Konflikte, an deren Auseinandersetzung es reift. Heinz Hartmann wiederum hat die konfliktfreien Bereiche des Ich fokussiert und verschiedene Ich-Funktionen herausgearbeitet, so neben Angstentwicklung und Abwehr verschiedene kognitive und vermittelnde Funktionen.

Aus diesem Fokus der Ich-Psychologie leitet sich eine weitere mögliche Psychopathologie ab, nämlich die Ich-strukturelle Störung. Aufgrund unzureichender Entwicklung von Ich-Funktionen scheitert das Ich an der Bewältigung innerer und äußerer Anforderungen, wodurch es zur Symptomentwicklung kommt (Entwicklungspathologie). Ein typisches Symptom ist z. B. die Impulskontrollstörung. Defekte bzw. Mängel im Ich können auch mit Ersatzbildungen („Plomben“) wie z. B. Suchtverhalten ausgefüllt werden, die eine prothetische Funktion für die mangelhaften Ich-Funktionen übernehmen. Ich-strukturelle Störungen gehen nach Hoffmann und Hochapfel i. d. R. auch mit einem Über-Ich-Defekt einher, was zu einer mangelhaften Gewissensbildung führt. Betroffene können ihr Verhalten dann nur durch äußere Gesetzgebung regulieren; fällt diese weg, treten Egozentrie und Dissozialität bis hin zu Kriminalität auf.13

Ursache Ich-struktureller Störungen sind v. a. Vernachlässigung, Versagung und Dissozialität im Milieu der Kindheit der Betroffenen. Gerd Rudolf hat mit seiner Strukturbezogenen Psychotherapie eine psychodynamische Behandlungsmethode entwickelt, die diese Pathologien adressiert. Mit der Strukturachse im OPD-2 wurden hierfür in 4 Kategorien mit je einem Subjekt- und Objektpol insgesamt 24 Ich-Funktionen (s. Tab. 1) ausformuliert, die entlang 4 Reifegraden entwickelt sein können (Strukturniveau). So werden ein gut integriertes Strukturniveau, das sich u. a. durch Autonomie, Empathie, Selbstreflexion und Selbstkontrolle kennzeichnet, ein mäßig integriertes Strukturniveau, gekennzeichnet durch Übersteuerung und Selbstentwertung, ein gering integriertes Strukturniveau, gekennzeichnet durch Impulsdurchbrüchigkeit und Kränkbarkeit, sowie ein desintegriertes Strukturniveau, gekennzeichnet durch Steuerungsunfähigkeit und überflutende Emotionalität, unterschieden.

Ein weiteres dimensionales Modell der Persönlichkeitsentwicklung ist das Niveau der Persönlichkeitsorganisation nach Otto Kernberg, das die Integration der Identität (d. h. stabile Selbst- und Objektbilder), Reife der Abwehrmechanismen (s. a. Tab. 2) und Fähigkeit zur Realitätsprüfung umfasst. Hieraus abgeleitet unterscheidet er eine neurotische Persönlichkeitsorganisation, eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation und eine psychotische Persönlichkeitsorganisation.

Wahrnehmung Steuerung Emotionale Kommunikation Bindung
Subjektpol:
Selbstreflexion, Affektdifferenzierung, Identität
Subjektpol: Impulssteuerung, Affekttoleranz, Selbstwertregulierung Subjektpol:
Affekte erleben, Fantasien nutzen, Körperselbst
Subjektpol: Internalisierung, Introjekte nutzen, Variable Bindungen
Objektpol:
Selbst-Objekt-Differenzierung, Ganzheitliche Objektwahrnehmung, Realistische Objektwahrnehmung
Objektpol: Beziehungen schützen, Interessenausgleich, Antizipation Objektpol: Kontaktaufnahme, Affektmitteilung, Empathie Objektpol: Bindungsfähigkeit, Hilfe annehmen, Bindung lösen
Tab. 1: Strukturachse des OPD-214
Strukturniveau Abwehrmechanismus
Gut integriert Verdrängung
Rationalisierung
Verschiebung
Mäßig integriert Verleugnung
Wendung gegen das Selbst
Reaktionsbildung
Isolierung
Projektion
Gering integriert Spaltung
Projektive Identifikation
(primitive) Idealisierung und Entwertung
Desintegriert Spaltung (psychosenah)
Verleugnung
Projektive Identifikation (psychosenah)
Tab. 2: Abwehrmechanismen nach Strukturniveau gemäß OPD-215

1.4 Ätiologie 4: Objektbeziehungen

Schlagworte
Objektbeziehungstheorie, Internalisierung, Desomatisierung, Resomatisierung, Inkorporation, Partialtrieb, Teilobjekt, Ganzobjekt, Introjektion, Identifikation, Paranoid-schizoide Position, Depressive Position, Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Teilobjektbeziehungsdyade, Objektkonstanz, Identitätsdiffusion, Entmischte Affekte, Interpersonelle Abwehr

Zeitgleich zur Ich-Psychologie entwickelte sich eine weitere Linie psychoanalytischen Denkens, die Objektbeziehungstheorie. Eine maßgebliche Theoretikerin derselben ist Melanie Klein, die bei Ferenczi in Lehranalyse war und insbesondere aus der Kinderanalyse wesentliche Erkenntnisse über die Bedeutung innerer Objekte herausgearbeitet hat.

„Das Ich wird am Du“, hatte bereits der Philosoph Martin Buber aufgezeigt; dies entspricht auch einer Grundannahme der Objektbeziehungstheorie, nämlich dass sich die Psyche aus Beziehungserfahrungen entwickelt. Diese Entwicklung baut auf Verinnerlichungsprozessen (Internalisierung) auf, die selbst wiederum Reifungsschritten unterliegen. „Das Ich ist vor allem ein körperliches“, so Freud, was bedeutet, dass sich Selbst- und Objekterleben zuerst anhand von Körpersensationen manifestieren, bis diese im Rahmen der kognitiven Entwicklung durch mentale Prozesse in Form von Gedanken, Gefühlen und Fantasien abgelöst werden. Max Schur nennt diesen Entwicklungsschritt, bei dem Körpersensationen in mentale Prozesse überführt werden, Desomatisierung. Im späteren Leben kann es konflikt-/abwehrbedingt zur Resomatisierung und psychosomatischen Krankheitsentwicklung kommen, oder im Rahmen einer Entwicklungspathologie kann die Desomatisierung auch ausbleiben.

Der früheste Mechanismus der Internalisierung ist somit die Inkorporation, in dem Beziehungserfahrungen mit körperlichem Erleben (z. B. Linderung von Erregungs-/Spannungszuständen durch Befriedigung physiologischer Bedürfnisse) und ganz zentral der Erfahrung der Nahrungsaufnahme und Fütterung verbunden werden: „Der orale Akt des Essens bedeutet objektal eine Verschmelzung mit der Mutter, inklusive der Gefühlsqualitäten, die damit verbunden sind: der Erlaubnis, sich wie ein Kind vorbehaltlos akzeptiert zu fühlen“ (Eugen Drewermann). Die ersten Beziehungserfahrungen insgesamt sind entlang von Partialtrieben, d. h. Trieben aus der psychosexuellen Entwicklung gemäß der Freudschen Phasenlehre, organisiert. Hieraus resultierende Objektrepräsentanzen sind, auch aufgrund noch mangelnder Selbst-/Objektdifferenzierung, entsprechende Partial- bzw. Teilobjekte; Melanie Klein hat dies plakativ mit den Bildern der guten und bösen Brust dargestellt. Erst in späteren Entwicklungsschritten erfolgt die Integration der Teilobjektbeziehungserfahrungen zu Ganzobjekten.

Auf mentaler Ebene spricht man bei Verinnerlichung von Introjektion und Identifikation. Wo bei der Inkorporation der Niederschlag des Objekts vor allem im Körperselbst stattfindet, ist es bei der Introjektion in der Fantasiewelt. Die hier aufgerichteten inneren Objekte stehen in Beziehung zum Ich und tragen dazu bei, dass a) das Kind sich so verhält, als wäre die Bezugsperson anwesend (es hält sich z. B. an Regeln), und b) sich selbst so behandelt wie es die Bezugsperson tut (z. B. fürsorglich, vernachlässigend oder schädigend). Wird die introjizierte Objekterfahrung vollständig assimiliert, geht sie schließlich in die Selbstrepräsentanz über, womit das Ich wie das Objekt wird, was sich Identifikation nennt.

Die Entwicklung von Teil- zu Ganzobjekten nimmt in der Kleinianischen Theorie insgesamt einen großen Stellenwert ein. Entwicklungspsychologisch hat Klein zwei Positionen unterschieden, die diesen Schritt darstellen, die Paranoid-schizoide Position und die Depressive Position. In der Paranoid-schizoiden Position, die entwicklungsgemäß jeder Mensch durchläuft, werden gute und schlechte Objekterfahrungen aufgrund der noch heftigen kindlichen Affekte voneinander getrennt gehalten, um eine sichere Beziehung zur Bezugsperson aufrechterhalten zu können (schizoider Anteil). Zusätzlich werden zur Abwehr belastender Zustände diese nach außen projiziert, wodurch sie aber einen verfolgenden Charakter annehmen können (paranoider Anteil). „Zusammenfassend zeichnet sich die paranoid-schizoide Position dadurch aus, als unerträglich erlebte Konflikte in den frühen Abhängigkeitsbeziehungen durch Spaltung und Projektion von Konfliktanteilen zu mindern, was als psychische Organisationsform und Funktionsweise auch im späteren Leben vorherrschend bleiben kann“16. Auch hier kann konflikt-/abwehrbedingt im späteren Leben eine Regression auf die Paranoid-schizoide Entwicklungsstufe erfolgen, oder sie bleibt im Rahmen einer Entwicklungspathologie bestehen. Der nächste Entwicklungsschritt ist die Depressive Position, in der gute und schlechte Selbst- und Objektbilder integriert werden, was einerseits zu einer Abmilderung heftig-negativer Affekte führt, andererseits aber zur Entstehung von Schuldgefühlen für die eigenen aggressiven Impulse, die sich nun ja gegen ein auch gutes Objekt richten. Dazu kommt das Entstehen von Verlustangst und Trauer, weshalb die Position als depressiv bezeichnet wird (wenngleich sie einen wichtigen Entwicklungsschritt darstellt).

Zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen auf objektbeziehungstheoretischer Grundlage haben Clarkin, Yeomans und Kernberg die Übertragungsfokussierte Psychotherapie konzipiert. Sie konkretisiert die Paranoid-schizoide Position dahingehend, dass in den ersten drei Lebensjahren gute und schlechte Objekterfahrungen in voneinander getrennten Gedächtniskompartimenten, die zum impliziten, nicht-verdrängten Unbewussten zählen, gespeichert werden. Sie sind hier in Form von Teilobjektbeziehungsdyaden, Mikropartikel bestehend aus Selbstbild – Affekt – Objektbild, abgelegt. Mit dem Schritt in die Depressive Position werden diese zu Ganzobjekten integriert, wodurch stabile innere Objekt- und Selbstbilder entstehen, was als Objektkonstanz bezeichnet wird. Die Objektkonstanz ist ein wichtiger Schritt der Autonomieentwicklung, da die stabilen inneren Objekte nun auch steuernd und beratend als gute Introjekte zur Seite stehen können (Sandler nutze die Metapher des Beifahrers), wodurch das Angewiesensein auf die Realpräsenz eines (guten) äußeren Objekts abnimmt.

Wird die Objektkonstanz nicht erreicht, persistiert die Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Diese charakterisiert sich gemäß Kernberg durch

  • Identitätsdiffusion: das Vorherrschen von Teilobjektbeziehungsdyaden führt zu wechselhaften, widersprüchlichen Selbst- und Objektbildern
  • Heftige Affekte: es bestehen intensive positive oder negative, sog. entmischte Affekte den Objekten gegenüber, da sie nicht durch Integration gemischt und somit abgemildert sind
  • Primitive Abwehrmechanismen: zur Angst-, Spannungs- und Unlustregulation werden vorwiegend die interpersonellen Abwehrmechanismen Spaltung und Projektion verwendet

Kernberg sieht für den Übergang von Paranoid-schizoider zu Depressiver Position ein Überwiegen positiv-lustvoller gegenüber hasserfüllt-negativer Affekte als notwendige Bedingung an. Die Dominanz des negativen Segments innerer Erfahrung, die den Fortbestand von Spaltung und Projektion begründet, wird ihm gemäß v. a. durch unsichere Bindung, genetische Disposition zu aggressivem Temperament und aggressionsförderliche äußere Einflüsse wie z. B. schwere Traumata verursacht.

Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie zielt auf das Aufdecken von Teilobjektbeziehungsdyaden in der therapeutischen Beziehung durch Klarifikation, Konfrontation und Deutung, wodurch diese zu Ganzobjekten und Objektkonstanz nachreifen sollen. Es zeigen sich in Ätiologie und Pathologie gemeinsame Schnittmengen zur Traumafolgestörung und Traumaätiologie nach Ferenczi.

1.5 Ätiologie 5: Bindung, Selbstwert und Mentalisieren

Schlagworte
Bindungstheorie, Bindungstyp, Bindungsmodell nach Bartholomew und Horowitz, Selbstpsychologie, Selbst, Spiegelung, Idealisierung, Kohäsion des Selbst, Selbstobjekte, Fragmentierung, Mentalisieren, prämentalistische Modi

Dass Bindung ein elementares menschliches Grundbedürfnis ist, hat eine Forschungsgruppe um John Bowlby, James Robertson und Mary Ainsworth herausgearbeitet. Mit den Worten Bowlbys: „Es gibt im wesentlichen zwei Gruppen von Einflüssen, die für die Art des Funktionierens der sich entwickelnden Persönlichkeit entscheidend sind. Die erste Gruppe bezieht sich auf die – partielle oder totale – Anwesenheit oder Abwesenheit einer vertrauenswürdigen Person, die bereit und in der Lage ist, als die Art von sicherer Basis zu dienen, die in jeder Phase des Lebenszyklus erforderlich ist. Dies sind die äußeren oder Umwelteinflüsse. Die zweite Gruppe bezieht sich auf die relative Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Individuums, erstens zu erkennen, wann eine andere Person vertrauenswürdig sowie bereit ist, als Basis zu dienen, und zweitens – wenn sie dies ist – mit jener Person so zu kollaborieren, dass eine für beide Seiten lohnende und dauerhafte Beziehung entsteht. Dies sind die inneren oder organismischen Einflüsse.“17 Das Gelingen sicherer Bindung ist somit sowohl für die Entwicklung als auch Aufrechterhaltung intakter Ich-Funktionen und Objektbeziehungen erforderlich und ein Grunderfordernis psychischer Gesundheit.

In ihrer Bindungstheorie zeigen Bowlby, Robertson und Ainsworth auf, dass sichere Bindung insbesondere Linderung von Stress und Aktivierung von Explorationsverhalten bewirkt. Stress wiederum löst Bindungsverhalten aus, d. h. die Suche nach einer Person, die Stress lindern kann. Erst Beruhigung und Wiederherstellung von Sicherheit ermöglichen dann die Rückkehr zu Exploration von innerer und äußerer Welt. Ein sicheres Bindungsangebot ist somit auch Voraussetzung für einen gelingenden psychotherapeutischen Prozess.

Vonseiten der inneren Einflüsse spielt der Bindungstyp eines Menschen eine bedeutende Rolle. In der Bindungstheorie werden vier Bindungstypen unterschieden:

  • Sicher gebundener Bindungstyp: Nähe und Distanz zur Bezugsperson können angemessen reguliert werden.
  • Unsicher-vermeidender Bindungstyp: Es wird Pseudounabhängigkeit demonstriert, Kontaktvermeidungsverhalten herrscht vor, und Stress wird über Kompensationsstrategien abgebaut. Ursächlich sind wiederholte Ablehnungserfahrungen; das Kind lernt schließlich, dem Schmerz der Abweisung durch Beziehungsvermeidung zu entgehen.
  • Unsicher-ambivalenter Bindungstyp: Sehnsucht und Ablehnung gegenüber der Bezugsperson wechseln sich ab. Ursächlich sind unberechenbare, willkürliche Beziehungserfahrungen mit der Bezugsperson; das Kind muss ständig die Befindlichkeit seiner Bezugsperson erahnen, wird von schwierigen eigenen und fremden Gefühlszuständen überfordert und erlebt sich in der Beziehungsgestaltung hilflos und einflusslos.
  • Desorganisierter Bindungstyp: es zeigt sich kein zusammenhängendes, eindeutig zuzuordnendes Bindungsverhalten. Traumatisierungen oder schizophrene Zustände in der Herkunftsfamilie werden angenommen.

Das Bindungsmodell nach Bartholomew und Horowitz bildet, ausgehend von Selbst- und Objektrepräsentanzen, ein vier-Quandranten-Modell mit vier Bindungstypen ab:

Der eigene Bindungstyp stellt schließlich die Basis für die spätere Beziehungsgestaltung dar. Er ist Teil des nicht-verdrängten Unbewussten, zeigt bis ins Erwachsenenalter eine relative Stabilität und wird bei Stress aktiviert. Kann Stress durch gute Beziehungserfahrungen nicht reguliert werden, können psychische oder psychosomatische Erkrankungen entstehen.

Die Entwicklung des Selbst vor dem Hintergrund früher Bindungs- und Beziehungserfahrungen untersuchte Heinz Kohut und etablierte damit die psychoanalytische Schule der Selbstpsychologie. Die Selbstpsychologie versteht das Selbst als Zentrum von Initiative sowie Zusammenspiel von Ambitionen, Idealen, Talenten und Fertigkeiten. Für seine Entwicklung sind Spiegelung seitens Bezugspersonen und Idealisierung von Bezugspersonen von großer Bedeutung; ersteres nährt den Bereich der Ambitionen / Selbstwirksamkeit, zweiteres den Bereich der Ideale. Beide Bereiche werden dabei von den individuell ausgeprägten Talenten und Fertigkeiten ausgestaltet.

Bezugspersonen, die zur Kohäsion des Selbst durch Erfüllung von z. B. Spiegelungs- oder Idealisierungsbedürfnissen beitragen, nennt Kohut Selbstobjekte. Er postuliert, dass Menschen lebenslang auf Selbstobjekte angewiesen sind. Zu einer gelingenden Selbstobjektbeziehung gehört dabei auch die Fähigkeit des Individuums, eine solche einzugehen. Menschen können daran scheitern, indem sie z. B. verinnerlichte Beziehungsmuster aus misslungenen Selbstobjektbeziehungen der Kindheit wiederholen. Ausbleibende bzw. frustrierte Selbstobjektbedürfnisse führen schließlich zu einer Abnahme der Kohäsion des Selbst, die mit z. B. depressiver Symptomentwicklung oder narzisstischen Krisen einhergehen kann. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Fragmentierung des Selbst mit psychotischer Dekompensation oder psychosomatischen Krisen. Ein:e Therapeut:in stellt Selbstobjektfunktionen v. a. durch Empathie zur Verfügung und ermöglicht in der Therapie damit eine korrektive Selbstobjekterfahrung.

Die Fähigkeit, sich auf die inneren Zustände von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrundeliegend zu begreifen und darüber nachdenken zu können, nennt sich Mentalisieren. Anthony Bateman und Peter Fonagy haben mit der Mentalisierungsbasierten Therapie ein Verfahren entwickelt, das auf die Verbesserung der Fähigkeit zu mentalisieren abzielt, da diese bei schweren Persönlichkeitsstörungen aufgrund repetitiver Fehlabstimmungen entwicklungspsychologisch bedeutsamer Spiegelungsvorgänge in den frühen Bindungsbeziehungen oftmals beeinträchtigt ist. Bricht in bindungsrelevanten Situationen das Mentalisieren zusammen, treten als Ausdruck einer bedrohten Selbstkohärenz sog. prämentalistische Modi auf. Zu diesen zählen der teleologische Modus, in dem nur konkreten Handlungen Bedeutung beigemessen werden kann, der Äquivalenzmodus, in dem innere und äußere Welt gleichgesetzt werden (d. h. Fantasien können schnell mit der Realität verwechselt werden), und der Als-ob-Modus, in dem innere und äußere Welt vollständig voneinander getrennt sind, sodass Worte und Gefühle nicht zueinander finden. Im Reflexiven Modus schließlich werden die Modi zum reifen Mentalisieren integriert.

1.6 Zusammenfassung

Bewusst zugängliche psychische Phänomene wie Verhalten, Gefühle oder Gedanken – die Spitze des Eisbergs – können eine individuell unterschiedliche unbewusste Entwicklung haben, die sich mit den Landkarten der verschiedenen aufgezeigten Theorien erschließen lassen können. Dabei muss eine plausible psychodynamische Hypothese nicht sofort der richtige Schlüssel zum unbewussten Geschehen sein, manchmal falsifiziert sie sich (z. B. durch Stagnation in der Behandlung) und muss durch eine andere ersetzt werden. Hierfür ist es hilfreich, über mehrere Landkarten zu verfügen und stets offen für neue zu sein.

Die Zugänge zum Unbewussten aus den oben resümierten Landkarten lassen sich in den folgenden Schlüsselfragen zusammenfassen, mit denen das Unbewusste untersucht werden kann:

  • Werden die Beschwerden der/des Patientin/en durch nicht verarbeitete belastende Erlebnisse hervorgerufen? Spielt dabei der konflikthafte Versuch, die Beziehung zu einem Täter / einer Täterin wiederherzustellen, eine Rolle? Wurden die aktuellen Beschwerden durch einen Trigger, der das unverarbeitete Material hat wieder lebendig werden lassen, ausgelöst? (Fokus Trauma)
  • Sind die Beschwerden Ausdruck eines ungelösten inneren Konflikts, bei dem gegensätzliche Motive oder verbotene Wünsche durch eine Versuchungs-/Versagenssituation zu einer Regression geführt haben? (Fokus Konflikt)
  • Leidet die/der Betroffene, weil sie/er problematische Bewältigungsstrategien innerer Anforderungen entwickelt hat oder notwendige psychische Fähigkeiten nicht entwickeln konnte? (Fokus Ich-Struktur)
  • Zeigen sich im Beziehungs- und Selbsterleben der/des Patientin/en Sprunghaftigkeit, heftige Gefühle und starke Objektabhängigkeit? Wirken problematisch verinnerlichte Bezugspersonen der Kindheit ungünstig auf das Ich der/des Betroffenen ein? Wiederholen sich problematisch verinnerlichte Beziehungserfahrungen in Gegenwartsbeziehungen? (Fokus Objektbeziehung)
  • Spielt bei der Patientin / bei dem Patienten die Unfähigkeit, bei Stress Entlastung durch Bindung zu erfahren, eine Rolle? Kann sie/er resonanzvollen Kontakt zu wichtigen anderen eingehen, in dem sie/er Spiegelung, Anregung und Anerkennung erfahren kann? Kann sie/er sich in andere hineinversetzen, ihre Gedanken, Gefühle und Motive angemessen verstehen und ihr Verhalten damit in Verbindung setzen? (Fokus Bindung, Selbstwert und Mentalisieren)

Dass dabei nicht immer nur ein Fokus alles erklärt, zeigt folgendes Zitat auf:

„Mehr und mehr gehen KlinikerInnen dazu über, nicht mehr nur in Entweder-Oder-Kategorien zu denken, also entweder alle psychischen Beeinträchtigungen eines Menschen auf einen Mangel an Repräsentation zurückzuführen, auf Entwicklungstraumatisierungen oder auf symbolisierungsfähige, überwiegend im deklarativen Gedächtnis gespeicherte, neurotische Konflikte, die mit einem höheren Strukturniveau verbunden sind. Denn selbst bei Menschen mit einer gravierenden psychischen Störung, wie z.B. mit Panikattacken, finden wir neben den massiven Symbolisierungsdefiziten auch psychische Konflikte vor. Und ebenso kann man bei PatientInnen mit einem gut integrierten Strukturniveau von massiven Desymbolisierungen überrascht werden. Zudem bleibt im Auge zu behalten, dass – abgesehen von den Eindrücken und Folgen massiver Traumata – alle aufgezählten Phänomene eine kontinuierliche Überarbeitung auf nichtlineare und kontextabhängige Weise in den darauffolgenden Lebensabschnitten erfahren.“18

Zu 6/7 ist psychisches Geschehen unbewusst, so Freuds Eisbergmodell, und diese Verhältnismäßigkeit lässt nachvollziehen, warum sich so viele psychoanalytische Schulen herausgebildet haben. Sich vorschnell in Gewissheit zu wiegen kann letztlich trügerisch – oder gar eigene Abwehr – sein, wie Wolfgang Schmidbauer pointiert aufzeigt:

„Der Therapeut, der vorgibt zu wissen, was das Dunkel des Unbewussten seiner Patienten birgt, gleicht dem Kind, das im Keller singt, weil es dann weniger Angst hat.“ (Wolfgang Schmidbauer19)


  1. Sandler J, Sandler AM. Vergangenheits-Unbewusstes, Gegenwarts-Unbewusstes und die Deutung der Übertragung. Psyche (Stuttg). 1985 Sep;39(9):800-29. German. PMID: 4059582. ↩︎
  2. Hoffmann, S. O., Hochapfel, F. R., Eckhardt-Henn, A., Heuft, G. & Hochapfel, G. (2018). Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie (8. Aufl.). Schattauer: 51 ↩︎
  3. Bohleber, W. (2013). Der psychoanalytische Begriff des Unbewussten und seine Entwicklung. PSYCHE, 67(09), 807–816. https://doi.org/10.21706/ps-67-9-807 ↩︎
  4. Hirsch, M. (2018). Psychoanalytische Traumatologie – das Trauma in der Familie: Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen (1. Nachdruck 2018 der 1. Aufl. 2004 Aufl.). Schattauer. ↩︎
  5. Hurvich, M. (2015). Vernichtungsängste – traumatische Ängste. Psyche, 69(09/10), 797–825. https://www.psyche.de ↩︎
  6. Zusammengefasst nach: Hirsch, M. (2018). Psychoanalytische Traumatologie – das Trauma in der Familie: Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen (1. Nachdruck 2018 der 1. Aufl. 2004 Aufl.). Schattauer. ↩︎
  7. Zusammengefasst nach: Hoffmann, S. O., Hochapfel, F. R., Eckhardt-Henn, A., Heuft, G. & Hochapfel, G. (2018). Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie (8. Aufl.). Schattauer. ↩︎
  8. Rudolf, G. (2010). Psychodynamische Psychotherapie: Die Arbeit an Konflikt, Struktur und Trauma (1. Ndr. 2011 d. 1. Aufl. 2010 Aufl.). Schattauer: 32-34 ↩︎
  9. Freud, A. (1984). Das Ich und die Abwehrmechanismen (24. Aufl.). FISCHER Taschenbuch. ↩︎
  10. Zusammengefasst nach: Benecke, C. (2014). Klinische Psychologie und Psychotherapie: Ein integratives Lehrbuch (1. Aufl., 56 Abb., 43 Tab. Aufl.). W. Kohlhammer GmbH. ↩︎
  11. List, E. (2014). Psychoanalyse: Geschichte, Theorien, Anwendungen (Psychotherapie: Ansätze und Akzente, Band 3185) (2. Aufl.). UTB GmbH. ↩︎
  12. Zusammengefasst nach: Hoffmann, S. O., Hochapfel, F. R., Eckhardt-Henn, A., Heuft, G. & Hochapfel, G. (2018). Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie (8. Aufl.). Schattauer. ↩︎
  13. Zusammengefasst nach: Hoffmann, S. O., Hochapfel, F. R., Eckhardt-Henn, A., Heuft, G. & Hochapfel, G. (2018). Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie (8. Aufl.). Schattauer. ↩︎
  14. Opd, A. & Cierpka, M. (2014). OPD-2 – Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung (3., aktualisierte und ergänzte Aufl.). Hogrefe AG. ↩︎
  15. Michael, S. (2015). OPD-2 im Psychotherapie-Antrag: Psychodynamische Diagnostik und Fallformulierung (1. Auflage 2015 Aufl.). Hogrefe AG. ↩︎
  16. Grimmer, B. (2020). Die paranoid-schizoide und die depressive Position. PTT – Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie, 24(4), 294–302. https://doi.org/10.21706/ptt-24-4-294 ↩︎
  17. Bowlby, J., Grossmann, K., Schomburg, K. & Schomburg-Scherff, S. M. (2019). Das Glück und die Trauer: Herstellung und Lösung affektiver Bindungen (6. Druckaufl. Aufl.). Klett-Cotta. ↩︎
  18. Senf, W., Broda, M., Voos, D. & Neher, M. (2019). Praxis der Psychotherapie: Ein integratives Lehrbuch (6. überarbeitete Aufl.). Stuttgart, Deutschland: Thieme. ↩︎
  19. Zitiert aus: Arndt, P. & Klingen, N. (2010). Memorix Psychosomatik und Psychotherapie (1. Aufl.). Thieme. ↩︎