Jenseits des Übertragungs-Prinzips

Selbstwert und Identität: zwei Größen, die nicht gottgegeben, genetisch festgelegt oder starr konditioniert sind, sondern fortlaufend dynamisch im zwischenmenschlichen Raum (neu) ausgehandelt werden. Schon Heinz Kohut, Begründer der psychoanalytischen Schule der Selbstpsychologie, wies auf unser lebenslanges Angewiesensein auf Selbstobjekte – d. h. Menschen, die mein Selbstgefühl wecken, aufrechterhalten und positiv beeinflussen (nach Bacal, Newman 1994) – hin, und in seiner Nachfolge entwickelten die Schulen der relationalen Psychoanalyse (zentrale Thesen: Beziehung strukturiert den Trieb, nicht umgekehrt; die Realität einer Beziehung wird von beiden Beteiligten konstruiert; Psychoanalyse als gegenseitige Beziehung und Bezogenheit) und der intersubjektiven Psychoanalyse (zentrale Thesen: Beziehungspartner beeinflussen sich gegenseitig in ihrem Denken, Fühlen und Handeln; der Mensch lebt von Geburt an in Beziehungen, die individuelle Psyche ist eine Fiktion; der Psychoanalytiker ist Miterlebender und Mitgestaltender, seine Beobachterposition liegt innerhalb, nicht außerhalb des gemeinsamen Kontextes) Konzepte, die diesen zentralen Fokus noch weiter ausführten. Seelisches Leiden ist folglich das Ergebnis er- und gelebter Beziehung(en) – ganz wie der Philosoph Martin Buber einst konstatierte: „Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Beziehung“ – was häufig seinen Ausdruck in verletztem Selbstwert oder unsicherem Identitätsgefühl findet.

Positives Selbstwertgefühl: sich durch die Augen der Anderen positiv sehen können

Kohut sprach vom Glanz im Auge der Mutter, Peter Schellenbaum wiederum von den Wunden der Ungeliebten: als Kind geliebt worden zu sein ist nicht nur wichtig für das Selbstwertgefühl des Kindes und sein Lebensglück, sondern auch, um liebevolle Objektrepräsentanzen und gelingende Beziehungsmuster, die zu selbstwertförderlichen Erfahrungen führen, zu entwickeln. Während verinnerlichtes frühes Geliebtwordensein zu Urvertrauen und einem guten narzisstischen Grundkapital (Stavros Mentzos) führt, verhelfen die in der Beziehung zu den frühen Bezugspersonen entwickelten Beziehungsmuster später zu gelungenen Interaktionen, die ein gutes Selbstwertgefühl aufrechterhalten. Mentzos stellt hier der gespeicherten frühen Anerkennung die aktuelle Anerkennung gegenüber und nennt diese im Vergleich zu einem Girokonto Grundkapital und laufende Bezüge. Ob die laufenden Bezüge bzw. selbstwertförderlichen Interaktionen gelingen, hängt dabei wesentlich von den früh entwickelten Beziehungsmustern ab.

Erlebt ein Kind schon früh ausbleibendes Geliebtwerden und macht darüberhinaus noch ablehnende, gar aggressive oder traumatische Erfahrungen, entwickelt es kein gutes narzisstisches Grundkapital. Sein Selbstwert-Girokonto ist von vornherein im Minus, weshalb pathologische Notmechanismen aktiviert werden, die als Abwehr das seelische Elend zu bewältigen versuchen: statt sich ungeliebt und bedeutungslos zu fühlen, wird ein grandioses, unrealistisch überhöhtes Selbstbild fantasiert, das die anderen zu bejubeln haben (Ideal-, Real-Selbst und Ideal-Objekt verschmelzen pathologisch miteinander; Narzissmuskonzept nach Otto Kernberg, grob zusammengefasst). Aber auch in stabileren Eltern-Kind-Beziehungen können Selbstwertpathologien entstehen, wenn z. B. gegenseitige Anerkennungsprozesse (Kind idealisiert die Eltern, Eltern idealisieren das Kind) nicht stattfinden oder später nicht durch angemessene bzw. verdaubare Frustrationen relativiert werden; Selbst oder Objekt werden dann fortlaufend einseitig entweder idealisiert oder entwertet (Fixierung einer natürlichen Entwicklung; Narzissmuskonzept nach Heinz Kohut, grob zusammengefasst).

Die Psychoanalyse benennt mit Übertragung und Wiederholung zwei Mechanismen, die alte Erfahrungen in die Gegenwart holen bzw. bis in die Gegenwart hinein lebendig halten. In der Übertragung wird dem Gegenüber unbewusst eine alte Rolle oder Bedeutung zugeschrieben (Objektpol eines Beziehungsmusters), in der Wiederholung werden die dazugehörigen Gefühle, Gedanken und Handlungen reaktiviert (Subjektpol eines Beziehungsmusters). Im Rahmen narzisstischer Störungen bzw. Selbstwertpathologien halten Übertragung und Wiederholung die Problematik aufrecht, denn sie verhindern gelingende selbstwertförderliche Interaktionen – Toni Brühlmann spricht hier vom Egogefängnis. So wird z. B. den Mitmenschen die Rolle des bejubelnden Publikums für meine Grandiosität zugeschrieben (Übertragung), was soweit führen kann, dass ich sie dahingehend rücksichtslos manipuliere (Wiederholung); diese Anerkennungsgier nährt aber keinen gesunden Selbstwert, und das unrealistisch überhöhte Selbstbild wird als solches auch vom Subjekt in all seiner Wackligkeit gespürt. Erfüllen die Mitmenschen ihre Rolle als bejubelndes Publikum hingegen nicht, werden sie wie die ablehnenden, vernichtenden Eltern erlebt (Übertragung), was in mir tiefen Hass und/oder tiefe Ohnmacht mit Vergeltungsfantasien auslöst (Wiederholung). Gehe ich andererseits von einem in Beziehungen chronisch entwertetem Selbst aus (Wiederholung von Kleinheitsgefühlen) und erlebe die Mitmenschen ständig als höherwertig und vielleicht geringschätzend mir gegenüber (Übertragung von Idealisierung), entgeht mir jedwede aufrichtige Wertschätzung, der echte Glanz im Auge der Anderen, während ich in alten, heute virtuellen Erfahrungsmustern steckenbleibe.

In einer psychoanalytischen Behandlung können Übertragungen und Wiederholungen, die in der Regel unbewusst sind, aufgedeckt und bearbeitet werden. Die „Wunden der Ungeliebten“ können zwar nur bedingt geheilt werden, die „laufenden Bezüge“, sprich selbstwertförderlichen Erfahrungen in der Gegenwart, aber verbessert werden: ein Ausweg aus dem Egogefängnis misslingender zwischenmenschlicher Beziehungen und schwankenden Selbstwertgefühls ist möglich.

Stabiles Identitätsgefühl: von Anderen in seinem Sein bestätigt werden

Das Ich und mit ihm die Identität eines Menschen wird ja gern von zeitgenössischen Neurowissenschaftlern als Illusion entsorgt, da sich hierfür kein eindeutiges neurobiologisches Korrelat finden lässt. Geisteswissenschaftlich-philosophische Strömungen wiederum stellen dies infrage und zeigen den reduktionistischen Blickwinkel dieser Konzepte auf („Genau das schwebt dem Neurozentrismus vor, der den Anschein des Ich wegerklärt, indem er alles Ich-Förmige in die Sprache der Neurochemie oder der Evolutionspsychologie zu übersetzen versucht.“, so Markus Gabriel in seinem Buch Ich ist nicht Gehirn).

Was jedenfalls das Schwierige am Ich ist, ist dass es nicht festgelegt oder vorgeformt bereitliegt, wie z. B. in Form einer organischen Struktur (dem Philosophen René Descartes wird z. B. nachgesagt, er hielt die Zirbeldrüse für den Sitz der Seele) oder in Form eindeutiger lebensweltlicher Rollenzuschreibungen (man bedenke die zunehmende Selbstunsicherheit im Rahmen des zunehmenden Abbaus tradierter Rollenzuschreibungen, Beziehungsführung und Berufsperspektiven). Einzig ein konstant uns begleitendes und ausmachendes Ich-Gefühl – der Bewusstseinsphilosoph Ken Wilber spricht vom Feeling of I AMness -, welches in sich frei von Inhalten ist, wie auch die spirituellen Traditionen lehren, lässt sich ausmachen. Erich Fromm benennt diese Fähigkeit, sich als von der Umwelt getrenntes Lebewesen, als Ich, zu erleben, als wichtige Voraussetzung für seelische Gesundheit. Da der Mensch aber selbstständig und ohne strikt determinierende natürliche Wurzeln leben muss, muss er sich ein Bild von sich selbst machen können, führt er weiter aus.

Als selbstbewusste und zur Selbstreflexion begabte Lebewesen tragen wir also die Sehnsucht in uns, uns selbst zu erfassen, uns selbst zu begegnen. „Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch“, soll Goethe gesagt haben. Fromm wiederum beschreibt ein essentielles Bedürfnis nach Identitätserleben, das wir durch Kreativität, Individualität und Bezogenheit erlangen können, im Pathologischen hingegen durch Destruktivität, Konformität und Narzissmus verfehlen.

In intersubjektiver Theorie erlangen wir ein gutes Identitätsgefühl, wenn wir stimmige Beziehungen gestalten, sprich wenn unsere Selbst- und Objektrepräsentanzen „passen“. Dies zeigt sich, wenn ein Mitmensch meine ihm zugewiesene Rolle bzw. Bedeutung annimmt und so erfüllt und dadurch auch meine Selbstzuschreibung bestätigt. Bestenfalls geht dies mit einer selbstwertförderlichen Interaktion einher (Beispiel: die fleißig lernenden Schüler bestätigen mir durch ihre guten Leistungen, dass ich 1. ein Lehrer bin, 2. der gut ist).

Jenseits des Übertragungs-Prinzips: achtsame Beziehungsgestaltung für positiven Selbstwert und stabiles Identitätsgefühl 

Übertragung und Wiederholung machen als Mechanismen von Beziehungserleben dann krank, wenn sie starr sind und an neuen zwischenmenschlichen Erfahrungen nicht wachsen bzw. sich korrigieren. Sie verhindern so einen guten Selbstwert und ein stabiles Identitätsgefühl. Heilung findet durch die Begegnung mit dem Fremden statt, so auch der Titel von Toni Brühlmanns hier zitiertem Buch, dem Anderen, was meine starren Beziehungsmuster nicht abbilden bzw. erfassen und somit ausschließen. Dies kann z. B. der Glanz im Auge eines Mitmenschen sein, den ich unbewusst ausblende, und diesen daher gewohnheitsmäßig als geringschätzend interpretiere. Jenseits der üblichen Übertragungen ist so ein frischer Realitätskontakt möglich, der wirklich bewusstseinserweiternd ist. Achtsamkeit kann hier helfen, diesem Anderen zu begegnen, einen frischen Realitätskontakt zu haben.

Auch deutlich wird hieran, dass für ein gesundes psychisches Leben gute zwischenmenschliche Beziehungen wichtig sind, was wertschätzende und bestätigende Begegnungen bedeutet. Aus Sicht der relationalen Psychoanalyse – ich beziehe mich auf Jessica Benjamin – besteht das narzisstische Dilemma am Scheitern an dieser zwischenmenschlichen Bedürftigkeit, was zu den pathologischen Reaktionen falscher Autonomie i. S. geleugneter bzw. verdrängter Bedürftigkeit oder symbiotischer Vereinnahmung führt.

Dass es ebenfalls nicht möglich ist, sich davon zu lösen nachzudenken, was andere wohl über einen denken – ein viel verbreiteter küchenpsychologischer Vorschlag – sollte hieran ebenfalls deutlich werden. Vielleicht lohnt es aber zu reflektieren, welche Sicht der Anderen über mich ich bei Ihnen vermute bzw. ihnen unterstelle.