Psychoanalyse: viel mehr „Hier und Jetzt“ als häufig angenommen

Ein geläufiges Vorurteil gegenüber der Psychoanalyse – sei es von Laien oder Vertretern anderer Psychotherapieschulen – ist immer noch dieses: da wird doch nur in der Vergangenheit rumgekramt. Und dann: Was soll das bringen, sich mit vergangenen Dingen zu beschäftigen? Was passiert ist kann man eh nicht mehr ändern. Und schließlich: Wenn man zuviel über die Vergangenheit nachdenkt, verliert man doch nur den Kontakt zur Realität und zum Wesentlichen – vorwärts kommt man so nicht.

Wenn dem so wäre, könnte man die Psychoanalyse (zurecht) begraben. Dass dem aber nicht so ist, möchte ich im Folgenden zeigen.

Leben in der Gegenwart: Thema mit Variationen

Als ich noch aktiver Kirchenmusiker war, hat mich eine Disziplin immer am meisten fasziniert: die Orgelimprovisation. Am liebsten über Choräle, zum Beispiel ein improvisiertes Choralvorspiel im Gottesdienst. Aus etwas Altem, Gegebenen – einer Jahrhunderte alten Melodie wie z. B. „Ein feste Burg ist unser Gott“ – entsteht durch meine musikalische Lebendigkeit spontan ein ganz neues Musikstück. (Manchmal hörenswert, manchmal auch nicht). Aus der Luft gegriffen ist es dabei nicht, es leitet sich aus der gegebenen Choralmelodie und den mir verinnerlichten musikalischen Strukturen ab, enthält aber jedes Mal auch etwas Eigenes, Neues, Kreatives. Nicht umsonst bedeutet das Wort Improvisation übersetzt unvorhergesehen.

In Beziehungen und unserem subjektiven Erleben ist es ähnlich: ein gegebener Anlass fordert unsere Reaktion heraus, die immer etwas Verinnerlichtes, Altes und etwas Spontanes, Unvorhergesehenes enthält. Vielleicht ist es ein Konflikt, der den alten Trotz oder die alte Kränkung hervorholt, und wir reagieren wieder gewohnt abweisend oder polternd. Vielleicht diesmal ein wenig milder, weil wir seit dem letzten Konflikt darüber nachgedacht haben und etwas Schärfe reduzieren wollen. Oder erkannt haben, dass unsere Reaktion nicht wirklich zum Auslöser passt, sondern eigentlich mal einer ganz anderen Situation galt und hier fälschlicherweise vorschnell wieder hervorgeholt wurde.

Improvisation in Musik und alltäglichem Leben: Ein gegebenes Thema wird mit bekanntem Repertoire verarbeitet, aber jede neue Durchführung lässt eine neue Variation zu.

Die Gegenwart baut auf Vergangenem auf

Mein Leben hier und heute ist nicht vom Himmel gefallen, es hat sich entwickelt, ich habe mich entwickelt. Und ich entwickle mich ständig weiter: Erfahrungen prägen mich, verändern mich. Ich verarbeite Erfahrungen, entwickele Ideen und treffe Entscheidungen. Mein Handeln und Erleben hier und jetzt speist sich aus meiner Lebenserfahrung, meinen verinnerlichten Begegnungen, meinen Begegnungen mit mir selbst, und kann dennoch in jedem neuen Moment neu geformt und moduliert werden.

Wie sehr es geformt und moduliert werden kann, hängt dabei vom Ausmaß und der Macht des Vergangenem im Gegenwärtigen ab: je stärker ich von intensiven Gefühlen überflutet werde (die ich mir vielleicht gar nicht erklären kann), je stärker mich diffuse Stimmungen und unflexible Haltungen beeinflussen, desto weniger Raum hat das Spielerische, Kreative, Spontane. Ich fühle mich vielleicht gefangen oder bedrängt, sehe mich gezwungen, entsprechende Situationen zu vermeiden, die mich immer wieder so fühlen und reagieren lassen. Ohne genau zu wissen warum, möglicherweise auch ohne zu wissen, ob es an mir oder den anderen liegt. Manchmal tut es sich aber auch schwer mit dem Vermeiden: trotz bestem Willen gerate ich immer wieder in dieselben Zwickmühlen und an dieselben Menschen, die mir nicht guttun. Es scheint wie verhext.

Wenn das Alte im Gegenwärtigen zu mächtig wird: Wiederholung und Übertragung

Ungelöste existenzielle Konflikte, der OPD-2 spricht von den Grundkonflikten, deren Lösung jedem Menschen abverlangt ist, können sich wieder melden, falls ihre Bewältigung nicht gelungen ist und die Konfrontation mit ihrer Thematik nicht mehr vermeidbar ist. Konkret formuliert Gerd Rudolf:

„Der Grundkonflikt bedeutet […] ein biographisch verstehbares dysfunktionales Muster des Selbsterlebens, der erlebten Beziehungen, der eigenen Beziehungserwartungen und eigenen aktiven Beziehungsgestaltung. Er resultiert aus familiären Beziehungserfahrungen, die das Kind in eine unlösbare Konfliktlage und kaum erträgliche Gefühlslage versetzt hatten. […] Das psychodynamische Konfliktmodell sieht diese Vorgänge nicht als einzelne von beliebig vielen Lebenserfahrungen, sondern als entscheidend wichtige, die innere Verfassung des Selbst und die künftigen Beziehungserwartungen prägende Erfahrung, die ihre konflikthafte Sprengkraft über die Zeit hinweg bewahrt und die als mitgetragene Disposition später in Konflikte der Jugend und des Erwachsenenalters einfließen kann. Diese Dispositionen verknüpfen sich mit Lebenskonflikten und Beziehungsproblemen des Erwachsenenlebens, z. B. in der Partnerschaft oder im Beruf, was dann zur Aktualisierung des Grundkonflikts unter neuen Lebensbedingungen führt. Andrängende Bedürfnisse und vorweggenommene Enttäuschungen gelten jetzt nicht mehr den konkreten Elternfiguren, sondern sie werden auf wichtige Personen des Erwachsenenlebens übertragen (auf den Partner, die beruflichen Vorgesetzten, die eigenen Kinder usw.).“ (aus: Rudolf, Gerd. Psychodynamische Psychotherapie. S. 28-29)

Themen der Grundkonflikte sind Individuation vs. Abhängigkeit, Unterwerfung vs. Kontrolle, Versorgung vs. Autarkie, Selbstwert, Schuld, Ödipalität (= Integration der eigenen Sexualität) und Identität. Das erstmalige Auftreten der Grundkonflikte folgt dabei einem entwicklungspsychologischem Werdegang. Rudolf (ebenda, S. 32-34) fasst in einem eigenen Modell zusammen:

  • 1. Lebenshalbjahr: Grundkonflikt der Nähe (OPD-2 = Individuation vs. Abhängigkeit)
  • 2. Lebenshalbjahr bis 2. Lebensjahr: Grundkonflikt der Bindung (auch depressiver Grundkonflikt; OPD-2 = Versorgung vs. Autarkie)
  • 2. bis 3. Lebensjahr: Grundkonflikt der Autonomie (OPD-2 = Unterwerfung vs. Kontrolle, Schuldkonflikt)
  • 3. bis 6. Lebensjahr: Grundkonflikt der Identität (OPD-2 = ödipaler Konflikt, Identitätskonflikt)

Weiter formuliert er: „In dem früh erworbenen Grundkonflikt ist die lebensbestimmende Konfliktthematik festgelegt, die entweder als konkretes Beziehungsskript (bei reifen Grundkonflikten) oder als emotional-atmosphärische Grundeinstellung (bei frühen Grundkonflikten) die unbewussten pathogenen Überzeugungen prägt und in den alterstypischen Lebensschwierigkeiten des Erwachsenenalters die alten Konfliktthemen in neuer personeller Besetzung inszeniert.“ (ebenda, S. 35).

Als Wiederholung reinszenieren sich so – bewusst zunächst nicht nachvollziehbar – schmerzliche Gedanken, Gefühle, Handlungen und Beziehungssituationen in der Übertragung auf Bezugspersonen der Gegenwart. Wiederholung und Übertragung liegt der Versuch zugrunde, den Konflikt nun doch zu lösen; scheitert er, bleibt nur die Symptomentwicklung. Zitat Rudolf: „Damit ist das Symptom nicht etwas, das möglichst schnell beseitigt werden muss, sondern das als möglicher Indikator für die dahinterliegende Konfliktthematik therapeutisch genutzt werden kann.“ (ebenda, S. 36-37).

Analytische Psychotherapie: in der Gegenwart lebendige Vergangenheit bearbeiten 

Die Psychoanalyse mit ihren verschiedenen Schulen bietet Raum und Möglichkeiten, die hinter dem Symptom stehenden Kräfte verstehen, erfahren und beeinflussen zu lernen. Dabei wird nicht beliebig in der Vergangenheit gekramt, sondern es werden basierend auf biographischem Hintergrundwissen, Träumen und Erinnerungen unerklärliche Gefühle, Stimmungen und Impulse durch gemeinsame Reflexion lebensgeschichtlich verständlich gemacht und dann auf ihr ursprüngliches Konfliktthema zurückgeführt. Wichtig bei dieser Rekonstruktion ist ein sich einstellendes Stimmigkeitsgefühl, das die zunächst unerklärliche Symptomatik nachfühlbar plausibel werden lässt. Die dann folgende Arbeit am Konflikt klärt die Symptomatik schließlich an ihrer Basis und lässt die Erkrankung als Reaktion bzw. gescheiterten Lösungsversuch unnötig werden. Dies führt im gelungenen Fall zu nachhaltiger Heilung.

Die psychoanalytisch begründeten Psychotherapieverfahren werden heute als Psychodynamische Psychotherapie zusammengefasst. Hierzu zählen die Tiefenpsychologische Psychotherapie und die analytische Psychotherapie. Während in der niederfrequenten Tiefenpsychologischen Psychotherapie mit einer Sitzungsfrequenz von 1-2 Stunden pro Woche Übertragungen und Wiederholungen vorrangig im Außen anhand konkreter Situationen und Symptome geklärt werden, Regression – d. h. ein erlebnismäßiges Eintauchen in die Gefühlswelt des ungelösten Grundkonflikts – eher begrenzt wird und die therapeutische Beziehung supportiv und eher frei von Übertragung gestaltet wird (wenngleich sie auch hier auftreten und geklärt werden darf), wird in der höherfrequenten analytischen Psychotherapie mit 2-3 Stunden pro Woche Regression gefördert, was bei einer stärker unbewussten Dynamik z. B. bei frühen Grundkonflikten, rigider Abwehr oder schlechtem Gefühlszugang oft notwendig ist, und Übertragung und Wiederholung werden auch in die therapeutische Beziehung geholt, um Klärung und korrektive emotionale Erfahrung im Hier und Jetzt zu ermöglichen.

Neben dem Konfliktfokus in der Psychodynamischen Psychotherapie besteht noch die Variante des Strukturfokus mit einer anderen Methodik, die auf Nachreifung von Ich-strukturellen Fähigkeiten zielt. Ich werde an anderer Stelle in diesem Blog noch darauf eingehen. Oftmals zeigen sich allerdings gemischte Störungsbilder, und beide Ansätze spielen eine Rolle.

Titelbild: Stefan Edthofer  / pixelio.de