Frühkindliche Traumata, überdauerndes Leiden

Gleich zu Anfang ein klares Statement: Traumata der Kindheit verändern nachhaltig und wirken, sofern nicht psychotherapeutisch behandelt, bis ins Erwachsenenleben und hohe Alter hinein. Sie beeinträchtigen die Beziehung zu sich selbst und den Mitmenschen, führen zu Störungen des Gefühlslebens und der Leiblichkeit und vermindern schließlich die gesamte Lebensqualität. Die Beschäftigung der Psychotherapeuten mit der Kindheit und Lebensgeschichte einer Patientin bzw. eines Patienten ist somit kein Selbstzweck oder „Herumkramen in der Vergangenheit“, sondern eine notwendige Bemühung, unerklärliche Beschwerden, Gefühlszustände und Verhaltensweisen der Gegenwart einzuordnen, aus ihrer kontextuellen Entstehung heraus zu verstehen und somit durch Verständnis zu lindern. Dem verstummten Leid, das sich nur noch durch Symptome äußern kann, wieder eine Stimme, einen direkten Ausdruck zu verleihen ist dabei ein wesentlicher Bestandteil des Heilungsprozesses; dem Wiedererleben, Wiederholungszwang und unnötigen Vermeiden längst nicht mehr bedrohlicher Entwicklungsmöglichkeiten ein Ende zu setzen der Anfang eines besseren Lebens.

Adverse childhood experiences

Belastende Kindheitserlebnisse mit negativen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden, sog. adverse childhood experiences (ACE), wurden in der ACE-Studie um Felitti et al. beginnend in den 90er Jahren ausführlich systematisch untersucht. Die Studie fokussiert in inzwischen 10 Kernfragen Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und Probleme im Elternhaushalt, um neben dem langfristigen Einfluss einzelner Faktoren auch die Auswirkung der Summe verschiedener belastender Kindheitserlebnisse zu erfassen.

Die 10 Fragen, bezogen auf die Lebenszeit bis zum 18. Lebensjahr, sind:

  1. Hat ein Elternteil oder ein Erwachsener in Ihrem Haushalt Sie oft oder sehr oft beschimpft, beleidigt, erniedrigt oder gedemütigt? Oder so sich so verhalten, dass Sie Angst bekamen, körperlich verletzt zu werden?
  2. Hat ein Elternteil oder ein Erwachsener in Ihrem Haushalt Sie oft oder sehr oft gestoßen, gepackt, geschlagen oder etwas nach Ihnen geworfen? Oder sind Sie jemals so stark geschlagen worden, dass Sie Spuren davon aufwiesen oder verletzt wurden?
  3. Hat ein Erwachsener oder eine Person, die mindestens 5 Jahre älter war, Sie jemals auf sexuelle Art und Weise berührt, gestreichelt oder Sie dazu veranlasst, deren Körper auf sexuelle Art und Weise zu berühren? Oder wurde versucht, oralen, analen oder vaginalen Geschlechtsverkehr mit Ihnen zu haben bzw. fand das tatsächlich statt?
  4. Haben Sie oft oder sehr oft empfunden, dass niemand in Ihrer Familie Sie liebt oder dachte, Sie seien wichtig oder etwas Besonderes? Oder haben Ihre Familienangehörigen nicht aufeinander aufgepasst, sich einander nicht nahe gefühlt oder sich gegenseitig nicht unterstützt?
  5. Haben Sie oft oder sehr oft empfunden, dass Sie nicht genug zu essen hatten oder schmutzige Kleidung tragen mussten? Oder waren Ihre Eltern zu betrunken oder zu „high“, um sich um Sie zu kümmern oder Sie zum Arzt zu bringen, wenn es nötig gewesen wäre?
  6. Haben Sie ein biologisches Elternteil verloren, z.B. durch Scheidung, weil Sie von ihm verlassen wurden, oder aus anderen Gründen?
  7. Wurde Ihre Mutter oder Stiefmutter oft oder sehr oft gestoßen, gepackt, geschlagen, oder wurde etwas nach ihr geworfen? Oder wurde sie manchmal, oft oder sehr oft getreten, gebissen, mit der Faust oder mit einem Gegenstand geschlagen? Oder haben Sie miterlebt, dass sie über einige Minuten wiederholt geschlagen oder mit einer Pistole oder einem Messer bedroht wurde?
  8. Haben Sie mit jemandem zusammengelebt, der Alkoholprobleme hatte, alkoholabhängig war oder Drogen konsumierte?
  9. War ein Mitglied Ihres Haushalts depressiv oder psychisch krank? Oder hat ein Mitglied Ihres Haushalts je einen Selbstmordversuch unternommen?
  10. War ein Mitglied Ihres Haushalts im Gefängnis?

Jede mit „ja“ beantwortete Frage ergibt einen Punkt, die Summe der Punkte schließlich den ACE-Score. Felitti et al. konnten u. a. aufzeigen, dass Menschen mit einem ACE-Score größer gleich vier ein 4- bis 12-fach erhöhtes Risiko für Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Depression und Suizidalität aufweisen.
In einer im September 2019 veröffentlichen Studie von Witt / Sachser et al. im Deutschen Ärzteblatt, die 2531 Personen nach den ACE und verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen befragt hat, konnten drastische Zusammenhänge zwischen ACEs, psychischen Störungen und verminderter Lebensqualität aufgezeigt werden:

  • So steigt, im Vergleich zum Vorliegen keines ACE, die Wahrscheinlichkeit, unter Depressivität zu leiden, mit einem ACE vom 2-fachen (Odds Ratio, OR, 1,95) bis zum 8-fachen (OR 7,79) bei größer gleich 4 ACEs.
  • Ähnlich steigt die Wahrscheinlichkeit, unter Ängstlichkeit zu leiden, von einem ACE mit OR 1,73 auf 7,09 bei größer gleich 4 ACEs.
  • Personen mit vier oder mehr ACEs in der Biographie zeigten eine 10-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit aggressiver Handlungen in den letzten 12 Monaten (OR 10,45), eine 5-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit niedrigerer Lebenszufriedenheit (OR 5,14) sowie eine 3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit auf ein Äquivalenzeinkommen unter 1500€ pro Monat (OR 2,78).

Im befragten Studienkollektiv berichtete ein Fünftel (20,7%) von einem erlebten ACE, 8,6% über zwei, 5,4% über drei und 8,9% über vier und mehr, insgesamt also 43,7% von erlebten ACEs. Erlebte körperliche Misshandlung (ACE-Frage 2) sticht als Einzelfaktor mit einer 7-fach erhöhten Wahrscheinlichkeit eigener aggressiver Handlungen in den letzten 12 Monaten (OR 7,11) hervor, was deutlich die häufige, tragische Weitergabe eigener Traumatisierung im Sinne täteridentifizierten Handelns darstellt.
Witt / Sachser et al. resümieren, dass die Ergebnisse ihrer Studie den Dosis-Wirkungs-Effekt frühkindlicher Traumatisierung unterstreicht, sprich dass mit steigender Anzahl belastender Kindheitserlebnisse das Risiko für Auffälligkeiten steigt.

Traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Hirnentwicklung

In der beachtenswerten Studie „The effects of childhood maltreatment on brain structure, function and connectivity“ von 2016 betonen auch Teicher et al., dass Kindesmisshandlung der führende Risikofaktor für psychische Störungen und Substanzmissbrauch ist. „Die Hirnentwicklung wird von den Genen gesteuert, aber von Erfahrungen geformt, insbesondere solchen in kritischen Lebensphasen“, eröffnen sie ihre Arbeit. Mittels bildgebender Verfahren konnte gezeigt werden, dass Kindesmisshandlung Einfluss auf die Hirnstruktur, -funktion und -vernetzung nimmt. Strukturelle Defizite zeigten sich vor allem im Hippocampus, Corpus Callosum, dem anterioren cingulären Cortex, dem orbitofrontalen Cortex und dem dorsolateralen präfrontalen Cortex. Störungen im anterioren cingulären Cortex gehen dabei insbesondere mit Affektverflachung, Denkstörungen, Aufmerksamkeitsdefiziten, Antriebsverlust und Entscheidungsschwierigkeiten einher, Störungen im Hippocampus, der maßgeblich an der Gedächtnisbildung beteiligt ist, mit triggerbaren Flashbacks. Funktionelle Einbußen wiesen die Amygdala beim Betrachten von emotionalen Gesichtsausdrücken und das Striatum beim Erwarten einer Belohnung auf, die Amygdala zeigt zudem eine verstärkte Aktivierung von Angstreaktionen in Richtung Dissoziation und erhöhter Alarmbereitschaft. Veränderungen der Hirnvernetzung zeigen sich im sensorischen System – also den Sinnesorganen und ihrer Reizverarbeitung, die die belastenden Erfahrungen aufnehmen. Teicher et al. bewerten die Befunde übereinstimmend mit der Hypothese, dass Kindesmisshandlung hirnorganisch mit Vermeidungsentwicklung und Hemmung annähernder Reaktionsmuster einhergeht.

Neuroendokrinologisch beeinflussen Traumatisierungen insbesondere die Stress- bzw. HPA-Achse (s. auch meinen Blogbeitrag hierzu). Hierdurch wird nicht nur die physiologische Stressreaktion ausgelenkt und die allostatische Last erhöht (s. meinen Beitrag zur Stressreaktion), sondern über das vegetative Nervensystem wird auch die Funktionsweise der inneren Organe, so z. B. des Herzkreislaufsystems und des Verdauungstrakts, negativ beeinflusst. So hängen beispielsweise eine veränderte HPA-Achsenfunktion und das Reizdarmsyndrom zusammen, und ein ACE-Score erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein Reizdarmsyndrom um das 2-fache. Die American Heart Association wiederum hat substanzielle Belege für Belastungen in der Kindheit und ihre Auswirkungen auf u. a. die Herzgesundheit resümiert und schlägt vor, die Prävention solcher Risikofaktoren mehr zu forcieren.

Es finden sich somit insbesondere im zentralen Nervensystem, vegetativen Nervensystem und in der Funktionsweise der inneren Organe schwerwiegende Auswirkungen von Belastungen in der Kindheit.

Traumafolgestörungen

Körper und Psyche weisen also schwere Folgeschäden frühkindlicher Traumatisierungen auf. Krankheitsbilder, die resultieren können, sind neben den affektiven Störungen wie Depressionen oder Angststörungen auch körpernahe Störungen wie Somatisierungsstörungen oder dissoziative Störungen. Auch zeigen sich Zusammenhänge zwischen Traumatisierungen und ADHS (ab ACE-Score von 2) sowie der Borderlinestörung und schließlich zu Suchterkrankungen (s. o.) und Psychosen.

Eine eigene Kategorie bildet die Komplexe Traumafolgestörung, die als selbständiges Diagnosebild noch nicht im derzeit aktuellen ICD-10 erfasst ist. Sie entsteht aus wiederholten, gehäuften zwischenmenschlichen Traumatisierungen durch emotionale, physische und/oder sexuelle Gewalt oder als Auswirkung eines vernachlässigenden Umfelds in der Kindheit mit fehlenden tragfähigen Beziehungen. Es ist vom Typ-1-Trauma (Monotrauma im Erwachsenenalter), der „klassischen“ PTBS, abzugrenzen, weist aber Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Symptomatik auf:

  • Intrusives Erleben (sich aufdrängende Erinnerungen, z. B. Flashbacks), Vermeidungsverhalten, Hyperarrousal (Übererregtheit)
  • Mindestens ein Symptom aus den Bereichen Affekt (z. B. instabile Stimmungslage, Ohnmachtsgefühle, selbstverletzendes Verhalten), negatives Selbstkonzept (z. B. Selbstwertdefizite, Scham-/Schuldgefühle, Überzeugungen eigener Schlechtigkeit), Probleme der interpersonellen Beziehungsgestaltung (z. B. Rückzugstendenzen, Tendenzen zur Traumawiederholung, beziehungsschädigendes Verhalten)

Therapie

Die Behandlung von Traumafolgestörungen erfolgt im ambulanten, tagesklinischen und stationären Sektor, oft auch in Kombination. Sie erfordert eine professionelle Psychotherapie von Therapeuten und therapeutischen Teams, die kompetent im Umgang mit traumatisierten Patienten sind. Eine bedeutende Herausforderung der Behandlung ist, ein tragfähiges Arbeitsbündnis aufrechtzuerhalten, da selbst- und beziehungsschädigendes Verhalten der Betroffenen sich oft auch gegen die Therapie bzw. den Therapeuten richtet. Daher sollte Beziehungsaufbau mit den Qualitäten Sicherheit, Halt, Kontrolle, Transparenz und Verlässlichkeit am Anfang jedes Behandlungsschritts stehen. Hierdurch und durch die Erarbeitung ggf. erforderlicher Skills zur Selbstberuhigung tritt eine für die weitere Behandlung notwendige Stabilisierung ein. Im weiteren Behandlungsverlauf sind dann konfrontative Interventionen bedeutsam, um eine Verarbeitung des Erlebten zu bewirken. Die etablierten Psychotherapieverfahren verfügen hier über jeweils eigene Vorgehensweisen. Die Konzepte Psychodynamischer Traumatherapie habe ich inzwischen hier dargestellt.

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