Stress, Körper und Psyche

Stress ist eines der Modeworte des heutigen Alltags- und Arbeitslebens. Alle haben irgendwie Stress, Stress ist irgendwie nicht gut für die Gesundheit, und mit Angeboten zur Stressreduktion wird gut Geld verdient. Doch was ist Stress eigentlich, wie wirkt er sich körperlich und psychisch aus, und wann macht er wirklich krank?

Die Stressreaktion

Lebewesen interagieren mit ihrem Umfeld. Menschen nehmen ihre physische und soziale Umwelt wahr, verarbeiten ihre Eindrücke kognitiv, emotional und körperlich und reagieren schließlich entsprechend ihrer Bewertung der Situation. Wird diese als Anforderung, Belastung oder Bedrohung bewertet, wird die Reaktion als Stress bezeichnet, deren Auslöser als Stressor. Hierbei spielen die Erfahrungen eines Menschen und seine zur Verfügung stehenden Ressourcen eine wichtige Rolle, ebenso auch seine Persönlichkeitsstruktur. Stresserleben und -reaktion fallen deshalb sehr individuell aus, nicht alle Menschen reagieren auf einen Stressreiz gleich.

John W. Mason hat in einer Arbeit von 1968 zusammengefasst, dass insbesondere Stressreize, die als bedeutsam, neuartig, unvorhersagbar und unkontrollierbar bewertet werden als intensive Stressoren wirken. Darüberhinaus werden kurzfristige Stressoren wie z. B. Alltagsprobleme, aber auch Monotraumata von langfristigen Stressoren wie z. B. Armut, chronische Erkrankung oder Komplextraumata, unterschieden.

Die Bewertung eines Stressors erfolgt in erster Linie unbewusst und reflexhaft (siehe den Blogbeitrag zum Limbischen System). In der Folge werden kaskadenartig Stresshormone ausgeschüttet und das sympathische Nervensystem aktiviert (siehe auch die Blogbeiträge zur HPA-Achse und zum Vegetativen Nervensystem). Somit soll eine der drei folgenden Reaktionsmöglichkeiten vorbereitet werden:

  • Kampf/Angriff: wird der Stressor als beherrschbar bewertet, werden Körper und Psyche auf eine aktive Bewältigungsreaktion vorbereitet. Kampf/Angriff sind hier nicht unbedingt wörtlich zu verstehen, sondern auch z. B. im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung oder lösungsorientierten Herangehensweise an ein Problem.
  • Flucht: wird der Stressor als vermeidbar, aber nicht beherrschbar bewertet, werden Körper und Psyche auf eine passive Bewältigungsreaktion vorbereitet, z. B. durch Rückzug oder Prokrastination.
  • Totstellreflex: wird der Stressor als weder beherrschbar noch vermeidbar bewertet, sondern als übermächtig und bedrohlich, wird der Totstellreflex aktiviert, eine Angststarre mit körperlicher Immobilität und Schmerzunempfindlichkeit, in der heutigen Zeit z. B. als „Blackout“ in einer Prüfungsreaktion.

Üblicherweise neigen Menschen dazu, immer gemäß einer bestimmten der drei Stressreaktionen zu handeln, was mit ihren unbewussten Bewertungs- und Interaktionsschemata zusammenhängt.

Die Phasen der Stressreaktion

Der Ablauf der Stressreaktion wird in vier Phasen unterteilt:

  1. Schockphase: der Körper realisiert den Stressor, die Verdauungsaktivität wird heruntergefahren, die Durchblutung der Körperoberfläche zugunsten von Arbeitsmuskulatur, Herz und Gehirn reduziert, ebenso wird das Denken blockiert.
  2. Alarmphase: Atmung, Kreislauf, Muskulatur und Stoffwechsel werden aktiviert, um Energie für die bevorstehende Handlung zu mobilisieren.
  3. Widerstandsphase: mittels der bereitgestellten Energie setzt sich der Mensch nun handelnd mit dem Stressor auseinander, wodurch diese und die Stresshormone verbraucht bzw. abgebaut werden.
  4. Erholung oder Erschöpfung: konnte der Stressor beseitigt werden, können Körper und Psyche erholen und die verbrauchten Energiereserven wieder aufbauen, bleibt die Widerstandsphase hingegen bestehen, tritt durch Aufbrauchen der Energiereserven irgendwann eine Erschöpfung ein, die gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann.

Auch wenn die Stressreaktion bei allen Menschen entlang der o. g. Phasen verläuft, unterscheidet man gemäß konstitutioneller Aktivierung des vegetativen Nervensystems den Vagotoniker, der aufgrund von Überaktivierung des Parasympthikus eher in der Schockphase verbleibt und zum Totstellreflex neigt, vom Sympathikotoniker, der eher in Alarm- und Widerstandsphase verharrt und sich nur eingeschränkt erholen kann.

Homöostase und Allostase

Die Auswirkungen von Stress werden in aller Regel nach dem Prinzip homöostatischer Regulation verarbeitet (Homöostase bezeichnet die Fähigkeit eines dynamischen Systems zur Aufrechterhaltung seines Gleichgewichts). Dies heißt, dass die zur Bewältigung einer Belastung aktivierten Systeme und Maßnahmen nach Überwinden des Stressors gegenreguliert werden – psychisch z. B. durch Eintreten von Befriedigung oder Beruhigung, körperlich z. B. durch Hemmung der Stresshormonausschüttung oder Herabregulation der Rezeptordichte für Stresshormone -, wodurch der Organismus schließlich wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückkehrt.

Lässt sich der Stressor aber nicht überwinden bzw. auflösen, sondern bleibt die Belastung bestehen oder kehrt gehäuft wieder, bewirken die ausgelösten Bewältigungsmaßnahmen eine Anpassung an die Situation. Dies geschieht auf psychischer Ebene z. B. durch Entwicklung und Chronifizierung pathologischer Abwehrmechanismen, auf körperlicher Ebene z. B. durch epigenetische Überaktivierung stresshormonproduzierender Gene. In diesen Anpassungsmaßnahmen spielt kognitiv nicht mehr nur die Bewertung der aktuellen Situation eine Rolle, sondern auch die Antizipation kommender vergleichbarer Belastungssituationen, sprich die ständige Erwartungsangst vor dem erneuten Eintreffen eines vergleichbaren Stressors, wodurch die innere Alarmbereitschaft aufrechterhalten bleibt. Die so herbeigeführte Auslenkung der Homöostase zur Anpassung an eine chronische Überbelastung wird Allostase (sinngemäß aus dem Griechischen: Stabilität durch Variabilität, die Sollwerte der Homöostase für z. B. Stresshormone im Blut werden angepasst) bezeichnet, die damit einhergehenden „Kosten“ für den Organismus durch fortlaufende erhöhte Anstrengung und Abnutzung als allostatische Last. Hauptsächlicher Auslöser allostatischer Prozesse sind subjektive Bewertungen von psychosozialen Stressoren wie z. B. Beziehungs- oder Arbeitsplatzkonflikte, und eine dauerhaft erhöhte allostatische Last geht mit Risiken für sowohl psychische als auch körperliche Gesundheit einher.

Homöostase: Rückkehr zum Ursprungszustand, Allostase: Anpassung an fortdauernde Belastung durch Verschiebung des Ausgangsniveaus

Stress und Krankheit

Der aus seinem Gleichgewicht ausgelenkte Mensch ist anfällig für die Entwicklung psychischer, psychosomatischer und körperlicher Erkrankungen. So zeigt das Diathese-Stress-Modell den Zusammenhang zwischen Stressbelastung (oder auch allostatischer Last) und Krankheitsanfälligkeit (Diathese) für psychische Störungen auf und ist ein etabliertes Paradigma der klinischen Psychologie. Die erhöhte Konzentration von Stresshormonen, v. a. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, im Blut wiederum verändert das Körpererleben, beeinträchtigt Immunsystem sowie Funktionieren innerer Organe wie Herz oder Magen-Darm-Trakt und trägt zu chronischer Verspannung der Muskulatur bei. Hierdurch können schließlich Infekte, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Reizmagen/-Darm, Rückenschmerzen und andere körperliche Beschwerden entstehen, chronische Erkrankungen können in ihrem Verlauf negativ beeinflusst werden.

Irrationale Bewertungen als Auslöser von chronischem Stress

Ob eine Situation als belastend oder bedrohlich erlebt wird und es somit zur Auslösung der Stressreaktion kommt, hängt wesentlich von der inneren Bewertung derselben ab. Neben angemessenen Bewertungen spielen im Hinblick auf krankhaften und chronischen Stress maßgeblich irrationale Bewertungen und Überzeugungen eine Rolle. Insbesondere die Kognitive Verhaltenstherapie nach Beck und die Rational-Emotive Verhaltenstherapie nach Ellis haben sich mit den Auswirkungen verzerrter Kognitionen beschäftigt, Ellis dabei mit seinem ABC-Schema ein praktikables Werkzeug zur Arbeit an und Umstrukturierung von irrationalen Überzeugungen geschaffen. Kognitive Verzerrungen wie z. B. Katastrophisieren, Schwarz-Weiß-Denken oder Personalisieren, die sich häufig in Grübelschleifen bewegen, konnten durch sie als stress- und krankheitsauslösende Denkstile aufgedeckt werden. Die neuere Schule der Metakognitiven Therapie konnte aufzeigen, dass neben dem, was eine Person denkt, auf einer tieferen Ebene noch von Bedeutung ist, wie sie denkt. Hier spielen Überzeugungen über Denkprozesse eine wichtige Rolle (z. B. „Mein Grübeln kann ich nicht beeinflussen“ oder „Sorgen machen schützt mich“). Die Psychoanalyse ergänzt dieses Bild um das Wissen von Übertragung traumatischer, konflikthafter oder überfordernder Beziehungserfahrungen, die ebenfalls das situative Erleben verzerren und ihrerseits den Boden für ausgelenkte Denkprozesse schaffen. Chronischer Stress mit seinen Auswirkungen bis in die Epigenetik hinein ist also kein Schicksal, denn auf diesen verschiedenen Ebenen kann psychotherapeutisch mit spezifischen Interventionen gearbeitet werden, um so den chronischen Stress und die allostatische Last zu reduzieren und zu begrenzen.

Zur Behandlung

Stressbehandlung ist heute ein breiter Markt mit diversen Angeboten. Oft werden gehypte Methoden gießkannenartig für alle Beschwerden und Anliegen empfohlen ohne den Betroffenen differenziert zu untersuchen. So ist es z. B. fraglich, ob dem Vagotoniker Autogenes Training zu empfehlen ist oder dem zwanghaft veranlagten Menschen mit Krankheitsängsten pauschales Achtsamkeitstraining. Chronischer Stress beeinträchtigt die Lebensqualität und stellt eine Disposition für die Entwicklung verschiedener schwerer Krankheitsbilder dar, er sollte entsprechend ernstgenommen werden. Wenn alltagsübliche Ansätze keine Linderung verschaffen, sollte ein Spezialist aufgesucht werden, z. B. ein Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

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