Psychotherapie als Kunst des Zuhörens und Verstehens

Diese neue Kraft, die Welt anders zu sehen, wäre so etwas wie eine tiefe Therapie.

Maio, G. (2011). Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal2/2011, 132–138, S. 137

In einer lesenswerten Polemik kritisieren Michael B. Buchholz und Horst Kächele die „technokratische Umgestaltung der Psychotherapie“, eine subtile Entwicklung, die man nicht streng genug im Auge behalten kann und die fortlaufend reflektiert und problematisiert werden sollte. Hierin bildet sich auch das zunehmende Eindringen marktwirtschaftlichen Denkens in die helfenden Professionen ab, worauf ich mich schon mal in einem Leserbrief im Deutschen Ärzteblatt bezogen habe. Im Kern geht es darum, die Psychotherapie vor einer Entmenschlichung ins Mechanistische zu bewahren, was durch eine wesensfremde Fehlorientierung an Effizienz- und Machbarkeitswahn droht („Dieses Grunddenken setzt stillschweigend voraus, dass im Grunde jede Krankheit und jede Krise grundsätzlich steuerbar, planbar, behebbar ist, vorausgesetzt, man wendet die richtigen Mittel an, und sei es das Mittel der Psychotherapie. Der sowohl dem Markt als auch den Naturwissenschaften zugrundeliegende Gedanke ist der Glaube an die Machbarkeit der Welt, der Gedanke einer absoluten Kontrollierbarkeit der Ereignisse und Geschehnisse der Welt, ja des eigenen Lebens. Dem liegt nichts anderes zugrunde als ein akzentuierter Machbarkeitsglaube, ein Glaube, der am Ende auf der Annahme eines mechanistischen Menschenbildes beruht.“1). Der philosophischen Frage nach dem Menschenbild hinter Psychosomatik und Psychotherapie bin ich an verschiedenen Stellen dieses Blogs bereits nachgegangen (vgl. z. B. hier und hier). Aus meiner Sicht ist es von zentraler Bedeutung, die impliziten Grundannahmen, die Therapeut:innen und Patient:innen von Psychotherapie haben, zu reflektieren, und diese letztlich wieder klar im ärztlichen Ethos, dem fürsorglichen Dienst am Nächsten, zu verankern.

Gespräch und Beziehung

Der Mensch hat in aller Regel ein Grundbedürfnis, über seine zentralen Nöte und verstörenden Erfahrungen mit bedeutsamen anderen zu reden (wenn nicht, spricht sein Körper für ihn, weiß der Psychosomatiker). Gelingt die Umsetzung dieses Bedürfnisses, werden auf diese Weise seelische Belastungen verarbeitet. Dies kann ganz niederschwellig im Kontakt mit guten Freunden, Angehörigen oder anderen Vertrauenspersonen geschehen. Gelingt dies aber nicht mehr, wird diese Form der Gesprächsführung irgendwann bei den professionellen Angeboten der helfenden Berufe gesucht. Diese haben nämlich, sicherlich entlang der Prozesse von Aufklärung und Säkularisierung, das Staffelholz der Seelsorge übernommen, wie bereits Carl Gustav Jung aufzeigte: „Ich zitiere einen protestantischen Seelsorger, wenn ich sage: ‚Heutzutage gehen die Leute zum Seelenarzt, anstatt zum Seelsorger.‘“2. In der Medizin stehen hierfür die psychosozialen Fächer, allen voran die Psychosomatik, die von ihrem Anbeginn an eine Gegenbewegung zum Trend einer „ingenieurwissenschaftlichen Medizin“ und einem Verdrängen der Seele aus der ärztlichen Kunst darstellt. Buchholz und Kächele bringen den Auftrag der „Sprechenden Medizin“ durch ärztliche und psychologische Psychotherapeut:innen auf den Punkt: „Menschen suchen die Psychotherapeutin auf, weil Gespräche mit Angehörigen, Ärztinnen, Priester(inne)n, Freundinnen, Lehrerinnen und anderen Alltagshelferinnen nicht mehr weiterführen und sie erwarten ein ‚klärendes Gespräch“, nicht aber eine ‚technische Intervention‘.”3

Dieses klärende Gespräch ist in eine besondere Beziehung eingebettet, eine Beziehung, die die helfenden Berufe in ihrem Wesen ausmachen sollte: „Der Wert und der Kern der Heilberufe liegt eben nicht in dem Heilenkönnen, sondern vor allen Dingen darin, dass sich jemand eines anderen Menschen in seiner Hilfsbedürftigkeit annimmt. Diese Zuwendung zum anderen in dem Anliegen des Helfens ist der Kern dessen, was die Heilberufe ausmacht. […] Daher ist diese Beziehung der Kerngehalt der Therapie, und diese Beziehung kann als Beziehung nicht reduziert werden auf ein evidenzbasiertes Verfahren.“4 Diese Grundeinstellung und dieses Grundwissen scheinen bei einer zunehmend einseitigen Orientierung auf Techniken, Methoden und scheinbar messbare Ziele verlorenzugehen, wodurch die Psychotherapie ihre menschliche Grundessenz verlieren würde – völlig abgesehen davon, ob eine rein mechanistische Psychotherapie die ihrerseits gesteckten Ziele und Versprechungen überhaupt einlösen kann.

Erich Fromm und die humanistische Psychoanalyse

In der Psychoanalyse hatte sich unter anderem Erich Fromm für eine humanistische Psychotherapie stark gemacht. Auch er hat sich mit der Frage um Technik, Beziehung und Persönlichkeit der/des Therapeutin/en auseinandergesetzt. So grenzt er Technik von Kunst ab: „Unter ‚Technik‘ versteht man die Anwendung der Regeln einer Kunst auf ihren Gegenstand. Diese Bedeutung von ‚Technik‘ hat einen feinen, aber wichtigen Wandel erfahren. Das Technische wurde auf Regeln angewandt, die sich auf das Mechanische beziehen, also auf das, was nicht lebendig ist, während das passende Wort für das, was mit dem Lebendigen zu tun hat, ‚Kunst‘ ist. Aus diesem Grunde ist es falsch, von einer psychoanalytischen ‚Technik’ zu sprechen; denn es geht bei ihr nicht um ein lebloses Objekt, sondern um den Menschen. Wir bewegen uns auf sicherem Boden, wenn wir die Psychoanalyse als einen Prozeß zum Verstehen der menschlichen Seele begreifen, und zwar besonders jenes Teils, der nicht bewußt ist. Sie ist eine Kunst wie das Verstehen von Dichtung.“5

Zur Ausübung der Kunst der Psychoanalyse gehören verschiedene Regeln und Normen, so dass die/der Analytiker/in sich ganz auf das Zuhören konzentriert, sie/er weitgehend frei von Angst und Gier sein muss, sie/er muss ein „frei arbeitendes Vorstellungsvermögen haben, das konkret genug ist, um in Worten ausgedrückt zu werden“6, und sie/er muss über Empathie verfügen. Letztere führt Fromm näher aus:

Der Psychoanalytiker muss zur Empathie für andere Menschen fähig und stark genug sein, das Erleben des anderen so zu spüren, als ob es sein eigenes wäre. Eine solche Empathie setzt die Fähigkeit zu lieben voraus. Einen anderen Menschen zu verstehen, bedeutet, ihn zu lieben, nicht im erotischen Sinne, sondern so, daß er den anderen erreichen kann und seine Angst überwindet, sich selbst dabei zu verlieren. Verstehen und Lieben lassen sich nicht voneinander trennen. Werden sie dennoch voneinander getrennt, kommt es nur zu einem verstandesmäßigen Prozeß, und die Türe zum wirklichen Verstehen bleibt verschlossen.

Fromm, E. (2005). Von der Kunst des Zuhörens: Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (6. Aufl.). Ullstein Taschenbuch. S. 225-226

Für die therapeutische Beziehung gilt, dass diese durch Direktheit geprägt sein soll. Analytiker:innen sollen nicht lügen, nicht gefallen wollen, sondern in sich ruhen. Sie sollen an sich gearbeitet haben. Patient:innen sollen möglichst offen und frei über ihre Anliegen sprechen. Das therapeutische Gespräch soll Bedeutsames thematisieren und kein Smalltalk sein.

Was hier auf Heilung hinauslaufen möchte, grenzt sich somit von einem mechanischen Geschehen ab und stellt viel mehr einen dynamischen, menschlich-bezogenen Prozess dar.

Heilung als Geschick, nicht als Produkt

Die Hilfe, das Bewältigen, die Heilung ist kein Produkt, kein Erzeugnis, kein Resultat, sondern sie ist immer zugleich auch Geschick, das sich einstellt oder auch ausbleiben kann, selbst dann, wenn man alles „richtig“ gemacht hat.

Maio, G. (2011). Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal2/2011, 132–138, S. 135

An einer weiteren Stelle grenzt sich Psychotherapie von dem Modell einer „ingenieurwissenschaftlichen Medizin“ ab: wo bei letztgenannter die/der Ärztin/Arzt die Symptome der/des Patientin/en unter Einsatz einer „technischen Intervention“ hauptsächlich „reparierend“ heilt, während die/der Patient/in eher passiv bleibt und auf die Wirkung z. B. der Medikation oder des Eingriffs wartet, ist Psychotherapie ein aktives Behandlungsverfahren, bei dem die/der Patient/in zwingend mitwirken und dem gemeinsamen Prozess eine Bedeutung beimessen muss.

Fällt die Psychotherapie jedoch – bewusst oder unbewusst – dem „ingenieurwissenschaftlichen“ Modell anheim, wird auch die/der Psychotherapiepatient/in ein/e passive/r Wartende/r, wodurch der ganze gemeinsame Prozess an Wirksamkeit und Spannkraft verliert. Dies begründet sich auch in der impliziten Idee, die/der Therapeut/in wäre ein/e Dienstleistende/r und die/der Patient/in ein/e Kundin/e: „Die damit verstärkte Haltung des Konsumierenkönnens unterminiert aber genau das, was für das Gelingen der Psychotherapie unabdingbar ist, nämlich die Anerkennung, dass die Arbeit der Bewältigung selbst zu leisten ist und dass der Therapeut hier nur unterstützen und etwas lenken kann aber nicht mehr.“7 Während im „ingenieurwissenschaftlichen“ Modell seitens der/des Patientin/en eine passiv-rezeptive Haltung, in der sie/er sich „abgibt und machen lässt“, genügt, ist im psychotherapeutischen Prozessmodell ein eigenes Wollen und (Mit-)Gestalten, eine seelische Aktivität erforderlich. 

All dies spiegeln auch wissenschaftlich herausgearbeitete Wirkfaktoren der Psychotherapie wieder, so:

  • Nach Lambert:
    • Allgemeine Faktoren machen in seinem Modell 30% des Effekts aus,
    • der spezifischen Technik kommen lediglich 15% zu,
    • der positiven Erwartung der/des Patientin/en (Hoffnung, „Placeboeffekt“) ebenfalls 15%,
    • und den größten Anteil macht die „Außertherapeutische Veränderung“ mit 40% aus.
  • Nach Wampold:
    • Allgemeine Effekte machen mindestens 70% aus,
    • eine „Unerklärte Varianz“ (z. B. Patientenvariablen) 22%,
    • und spezifische Effekte höchstens 8%.8

Manfred Beutel et al. fassen dies so zusammen: „Welcher Einschätzung man auch folgen mag, nicht mehr von der Hand zu weisen ist die Tatsache, dass die therapeutische Technik bzw. Methode für sich genommen nur eine geringe, die Persönlichkeit von Therapeut und Patient sowie deren Beziehung zueinander dagegen eine große Bedeutung für den Erfolg einer Psychotherapie haben.“9 Ob die/der Therapeut/in hingegen von ihrer/seiner Methode überzeugt ist, spielt für den Erfolg eine wichtige Rolle, ebenso ob die/der Patient/in dem gemeinsamen Prozess eine Bedeutung beimisst oder nicht.

Dies alles, kommt es günstig zusammen, kann dann schließlich in der Kraft münden, die Welt neu zu sehen, wie eingangs von Maio zitiert, wodurch letztlich auch Heilung, Symptomlinderung oder Verhinderung von Zustandsverschlechterung eintreten können.


  1. Maio, G. (2011). Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal2/2011, 132–138, S. 135  ↩︎
  2. Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke XI, 361 ↩︎
  3. https://www.psychoanalyse-aktuell.de/artikel-/detail?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=176&cHash=71d63155b8b2e4e9b9c984f509daf09d ; Abgerufen am: 26.12.2022 ↩︎
  4. Maio, G. (2011). Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal2/2011, 132–138, S. 136 ↩︎
  5. Fromm, E. (2005). Von der Kunst des Zuhörens: Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (6. Aufl.). Ullstein Taschenbuch. S. 225 ↩︎
  6. Fromm, E. (2005). Von der Kunst des Zuhörens: Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (6. Aufl.). Ullstein Taschenbuch. S. 225 ↩︎
  7. Maio, G. (2011). Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal2/2011, 132–138, S. 136 ↩︎
  8. Aus: Beutel, M. E., Doering, S., Leichsenring, F. & Reich, G. (2020). Psychodynamische Psychotherapie. https://doi.org/10.1026/02939-000, S. 305-306 ↩︎
  9. Beutel, M. E., Doering, S., Leichsenring, F. & Reich, G. (2020). Psychodynamische Psychotherapie. https://doi.org/10.1026/02939-000, S. 306 ↩︎