„Die durch die Notwendigkeit der Anpassung an die Umgebung bedingte Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen und die Eigenartigkeit des seelischen Mechanismus, immer ein Ziel zu verfolgen, legen den Gedanken nahe, dass das Weltbild und die ideale Leitlinie eines Menschen schon sehr frühe in der Seele des Kindes entstehen muß, nicht geformt und nicht mit einem Ausdruck faßbar, aber irgendwie in Sphären schwebend, die uns bekannt anmuten, die wir verständlich finden, die immer im Gegensatz zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit stehen.“
Aus: Alfred Adler, „Menschenkenntnis“, 1927
Jedes medizinische Fachgebiet hat seinen Untersuchungsgegenstand: die Kardiologen das Herz-Kreislaufsystem, die Gastroenterologen den Verdauungstrakt, die Unfallchirurgen den Bewegungsapparat, um ein paar Beispiele zu skizzieren. In der Psychosomatischen Medizin wiederum spielen v. a. Körperwahrnehmung, Gefühlsleben und Beziehungserleben – allesamt Ebenen, auf denen Leid entstehen und die Gesundheit beeinträchtigt werden können – eine zentrale Rolle. Menschen können unter innerer Unruhe, Erschöpfung oder unklaren Schmerzen leiden, sie können Depressionen, Angstzustände oder Zwänge entwickeln, und Mobbing, Partnerschaftskonflikte oder familiäre Zerwürfnisse können sie schwer belasten. Auf chronischen Stress wiederum können funktionelle Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom oder Schwindel folgen, und bestehende körperliche Erkrankungen können in ihrem Verlauf ungünstig beeinflusst werden.
Insbesondere die nicht-organische Seite dieser Beschwerden, das rein subjektive Leiden, wird oft bagatellisiert und abgetan, gesellschaftlich („Stell dich nicht so an!“) wie auch von manchen rein körpermedizinisch orientierten Ärzten („Sie haben nichts.“); ein Schicksal, das psychosomatische Patienten gut kennen. Dies zieht dann häufig Verzweiflung, Selbstzweifel und eine Verschlimmerung der Beschwerden nach sich. Mangels richtigem Verständnis und richtiger Behandlung drohen diese schließlich zu chronifizieren, was nicht selten gesellschaftliche Ausgrenzung – vor allem durch Verlust der Arbeit und sozialer Beziehungen – zur Folge hat.
Wie aber kommt eine solche Ablehnung und Geringschätzung des Subjektiven zustande? Um dieser Frage nachzugehen, lohnt ein Abstecher in die spannende Welt der Philosophie: zum Leib-Seele-Problem.
Die Philosophie des Geistes und die Natur der Qualia
Wie will man jemandem, der oder die noch nie etwas Rotes gesehen hat, die Farbe Rot erklären? Wie erlebt eine Fledermaus Ultraschallwellen? Der Geschmack einer Zitrone, der Klang einer Beethovensonate, der Geruch des Lieblingsparfums – all diese Sinneswahrnehmungen können nicht durch Worte vermittelt, sondern zunächst nur selbst erlebt werden; erst dann kann man sie mit Begriffen verbinden und sich darüber austauschen. Ähnlich verhält es sich mit Gefühlen wie Liebe, Angst oder Trauer und Befindlichkeiten wie Lust, Unruhe oder Antriebslosigkeit.
„Sich auf etwas beziehen und etwas erleben, ist nicht notwendig dasselbe. […] Vorstellungen kann man deswegen zwar mitteilen, aber nicht teilen. Wissen hingegen kann man mitteilen und damit auch teilen.“
Aus: Markus Gabriel, „Ich ist nicht Gehirn“, 2015
Diese Wahrnehmungen stellen die subjektiven Erlebnisgehalte mentaler Zustände, in der Philosophie Qualia genannt, dar. Der Philosoph Thomas Nagel definiert Qualia auch als wie es sich anfühlt, in einem bestimmten mentalen Zustand zu sein. Sie machen den inneren Kern eines Erlebnisses aus und gestalten somit die Innenperspektive des Bewusstseins. Diese wiederum ist nicht-öffentlich, „privat“, und nur der erlebenden Person via Introspektion zugänglich; lediglich neurologische / funktionelle Korrelate des Erlebens sind von außen, z. B. im EEG oder MRT, beobachtbar. Diesen Umstand nennt man epistemische Asymmetrie, und er lässt verschiedene Philosophen sogar die Existenz von Qualia bestreiten (z. B. Vertreter des eliminativen Materialismus). Andere Philosophen wiederum nutzen die Existenz von Qualia als Kritik am Materialismus, bis hin zur Zuschreibung geistiger Zustände an alle Objekte (Panpsychismus).
Die Untersuchung geistiger bzw. mentaler Zustände hinsichtlich ihrer Natur, Ursache, Wirkung und Beziehung zur physischen Materie ist Gegenstand der Philosophie des Geistes. Innerhalb dieser bilden sich verschiedene Positionen und daraus abgeleitete Modelle ab. René Descartes hat die Sichtweise des Dualismus etabliert, in der Psyche (P) und Materie (M) je ein gleichwertiger eigener Seinsbereich zugesprochen wird (P = M bzw. P || M). Die „res cogitans“ als Welt der geistigen Erscheinungen interagiere mit der „res extensa“ als Welt der körperlichen Erscheinungen; Descartes nahm an, die Zirbeldrüse wäre die Schnittstelle beider Bereiche, was sicher widerlegt ist. Modelle, in denen psychischen Phänomenen keine Eigenständigkeit zugesprochen wird und sie als Ergebnis materieller Prozesse verstanden (oder gar geleugnet) werden, werden zum Materialismus oder Naturalismus gezählt (M > P); Modelle, in denen materiellen Phänomenen keine Eigenständigkeit zugesprochen wird und sie als Ergebnis geistiger Prozesse verstanden werden, werden zum Idealismus gezählt (P > M). Bis heute jedoch konnten weder Dualismus, Materialismus noch Idealismus argumentativ ihre Sichtweise als einzig richtige durchsetzen. Darüberhinaus bringt jedes Modell Schwachstellen mit sich: der Materialismus kann nicht erklären, wie der Geist nicht-materielle Eigenschaften haben kann (z. B. Qualia oder Willen), der Idealismus kann nicht erklären, wie verschiedene Menschen übereinstimmende Eindrücke von äußeren Ereignissen haben können, und der Dualismus kann nicht erklären, wie beide Bereiche interagieren und wo der Ort des Geistigen festzumachen ist. Im Extrem schließlich bringen alle Modelle problematische, potentiell leidvolle Einstellungen mit sich: der Materialismus den Nihilismus, der Idealismus den Solipsismus und der Dualismus die Spaltung (d. h. Leugnung oder Bekämpfung eines abgelehnten Bereichs). Auf Nihilismus und Solipsismus will ich in einem eigenen Blogartikel noch eingehen.
Dieses philosophische Dilemma – die unbeantwortete (unbeantwortbare?) Frage nach der eindeutigen Natur geistiger Phänomene und die Beziehung zwischen Geist und Materie – wird Leib-Seele-Problem genannt. Thomas Nagel zufolge erfordert die Lösung dieses Problems eine wissenschaftliche Revolution ähnlich der Kopernikanischen Wende. Bis diese erfolgt ist, gilt es jedenfalls festzuhalten, dass mit Dualismus, Materialismus und Idealismus (und ihren verschiedenen Ausformulierungen) drei Blickwinkel bestehen, die jeweils Plausibilitäten und Schwachstellen enthalten, und die – mehr oder weniger bewusst – von Menschen eingenommen werden.
Welt- und Selbstbild vor dem Hintergrund unbewusster metaphysischer Annahmen
Alfred Adler spricht im eingangs aufgeführten Zitat davon, dass das Weltbild eines Menschen früh entsteht, nicht mit einem Ausdruck fassbar, irgendwie in Sphären schwebend, die uns bekannt anmuten. Diese Konzeptionalisierung verortet es im impliziten, nicht-verdrängten Unbewussten, in dem präverbales Wissen der ersten Lebensjahre abgelegt ist. Frühes Wissen wiederum wird unter anderem intersubjektiv im Rahmen einer sicheren Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson erworben, zu der epistemisches Vertrauen (ein Begriff aus der Mentalisierungstheorie), also das Vertrauen in eine Person als sichere Informationsquelle, besteht. Kulturelle und religiöse Prägungen/Überzeugungen tragen einen sicher nicht unerheblichen Teil hierzu bei; Weltbilder als Teil des kollektiven Unbewussten geben sich so vermutlich generationsweise weiter. In seinem lesenswerten Buch „Wie kommt die Kultur in den Kopf? Eine neurowissenschaftliche Reise zwischen Ost und West“ hat sich auch Hirnforscher und Philosoph Georg Northoff mit diesem Thema auseinandergesetzt und festgestellt, dass frühe Erfahrungen die Entwicklung des Gehirns in Bahnen lenken, die dann wieder dafür sorgen, dass man sich passende Nischen sucht.
Solange keine bewusste Reflexion dieser so tradierten metaphysischen Grundannahmen erfolgt, ist anzunehmen, dass das Welt- und Selbstbild eines Menschen unbewusst durch den Einfluss früher Bezugspersonen und früher Erfahrungen in eine der drei Ausrichtungen geprägt ist, denn kein Weltbild kommt letztlich an einer Positionierung in Richtung Dualismus, Materialismus oder Idealismus vorbei. Jeder von uns ist somit mehr oder weniger bewusst von einer dualistischen, materialistischen oder idealistischen Seinsauffassung überzeugt, aus der sich weitergehende Überzeugungen über unsere Identität (bin ich mein Körper, mein Bewusstsein, die Einheit von Körper und Seele?), über unsere Mitmenschen (ist der Andere nur sein Leib, hat er/sie Gefühle, Gedanken, Wünsche, Wollen?) und schließlich existenzielle Fragen (gibt es ein Leben nach dem Tod?) ableiten. Diese wiederum prägen ganz grundlegend unser Lebensgefühl, unsere Lebensführung und unsere Beziehungsgestaltung.
Psychosomatische Medizin im Spannungsfeld dreier Seinszugänge
Die Psychosomatische Medizin ist mit Krankheitsbildern konfrontiert, die sich aus allen drei Blickwinkeln betrachten lassen:
- die Psyche kann körperliche Beschwerden auslösen (P > M), z. B. funktionelle Beschwerden wie Schwindel oder Bauchschmerzen infolge innerer Konflikte oder Belastungen,
- der Körper wiederum kann psychische Beschwerden auslösen (M > P), z. B. depressive Beschwerden infolge einer Schilddrüsenunterfunktion,
- und Körper und Psyche können eigenständig bzw. unabhängig voneinander Erkrankungen entwickeln, ohne dass der jeweils andere Bereich betroffen oder verursachend wäre, oder sie entwickeln parallel Krankheitsbilder, die sich nicht ursächlich voneinander ableiten (P = M bzw. P || M).
Es ist daher klug, mit drei Augen schauen zu lernen, um nicht einer metaphysischen Farbenblindheit zu unterliegen. Die eingangs erwähnte Geringschätzung rein subjektiven Leidens leitet sich vermutlich aus einer materialistischen Weltsicht ab, die von einer einseitigen naturwissenschaftlichen Sichtweise geprägt ist, oder es fehlt die Vorstellung der Erlebnisqualität nicht-organischen Leidens. Meines Erachtens ist es jedenfalls angezeigt, dem Psychischen wieder mehr Eigenständigkeit zuzusprechen, wozu eine Reflexion der eigenen unbewussten metaphysischen Orientierung vielleicht helfen kann. Dies kann schließlich dem Leitspruch der Psychosomatik dienlich sein: „Nicht dem Körperlichen weniger, sondern dem Seelischen mehr Aufmerksamkeit schenken“.
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