Psychoanalytische Psychosomatik

Die psychoanalytische Psychosomatik ist ein eigener Zugang zum Menschen, der die leibseelische Verbindung vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer und psychodynamischer Modelle untersucht. Schon in ihren Anfängen war die Psychoanalyse auf den Körper bezogen, ihr Begründer Sigmund Freud orientierte sich in seinen Theorien an seiner nervenärztlichen Ausbildung und Forschungserfahrung. Diese ersten psychoanalytischen Konzepte wurden in nunmehr über 100 Jahren Psychoanalyse ergänzt und weiterentwickelt. Mit diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in den aktuellen Stand geben und mich dabei insbesondere auf zwei aktuelle Bücher beziehen, die ich dem interessierten Leser sehr empfehlen möchte: „Den Körper erleben: ein psychoanalytischer Dialog über Psychsomatik“ und „Körpergefühl“.

Psychosomatik und der Leib-Seele-Konflikt

„Man wird so lange keine angemessene Gesamtauffassung der Wirklichkeit besitzen, als man nicht erklären kann, auf welche Weise eine Vielzahl physikalischer Elemente, sofern sie auf die richtige Weise zusammenkommen, nicht allein einen funktionsfähigen biologischen Organismus bildet, sondern darüber hinaus ein bewusstes Wesen. Könnte man das Bewusstsein selbst mit irgendeinem physikalischen Zustand identifizieren, so hätte man freie Bahn für eine vereinheitlichte physikalische Theorie von Geist und Körper, und daher vielleicht auch für eine physikalische Einheitswissenschaft vom Universum. Das Gewicht der Argumente gegen eine rein physikalische Theorie des Bewusstseins macht es jedoch wahrscheinlich, dass eine physikalische Theorie der gesamten Wirklichkeit nicht möglich ist. Die Naturwissenschaften verdanken ihren Fortschritt der Tatsache, dass sie das Psychische aus dem Gebiet dessen aussparen, das sie zu erklären suchen, doch womöglich gibt es zwischen Himmel und Erde mehr, als man mit den Mitteln der Naturwissenschaften verstehen kann.“1

Wenn man über Psychosomatik spricht, lohnt es sich, zunächst einen Schritt zurückzutreten und den metaphysischen Rahmen, durch den man auf das Thema blickt, mitzubedenken. (Hierzu habe ich auch einen eigenen Blogbeitrag geschrieben). Dies meint die weltanschauliche Frage, wie Leib und Seele zusammenhängen; eine Frage, die weder naturwissenschaftlich noch philosophisch eindeutig beantwortet ist. So ergeben sich vier mögliche Positionen, die (implizit/unbewusst) eingenommen werden können und dann den Zugang zur Psychosomatik bestimmen:

  • Eine materialistische Sichtweise geht davon aus, dass Geist, Seele und Bewusstsein Produkte materieller/biochemischer Prozesse sind, sie über keine Eigenständigkeit verfügen und letztlich von materiellen Voraussetzungen abhängen (M > G).
  • Eine idealistische Sichtweise geht davon aus, dass die materielle Welt nur als Produkt im Bewusstsein existiert und somit geistig beschaffen ist, und dass Geist, Seele und Bewusstsein eine eigene Substanz darstellen, von der die Materie abhängt (M < G).
  • Eine dualistische Sichtweise geht davon aus, dass Materie und Geist jeweils eigene Substanzen darstellen, die entweder miteinander interagieren oder parallel zueinander funktionieren. Eine etablierte Ausformulierung ist der Eigenschaftsdualismus bzw. die Doppelaspekttheorie, die davon ausgehen, dass ein Mensch beide Eigenschaften (Materie und Geist) in sich vereint (M = G bzw. M || G).
  • Eine vierte Sichtweise ist eine Sonderform des Dualismus‘; sie geht davon aus, dass sowohl Geist als auch Materie von einer Ursubstanz abhängen, aus der sie beide hervorgehen (z. B. Gott oder Kosmos) und dann gleichwertig parallel zueinander agieren (M < K und G < K und M = G bzw. M || G).

Entsprechend (impliziter) Grundannahmen vor dem Hintergrund der aufgeführten Sichtweisen können psychische und körperliche Beschwerden somit entweder als voneinander unabhängig, durch den jeweiligen anderen bedingt oder aufeinander einwirkend verstanden werden. Klug ist es, sich bei der Ursachenforschung seiner Grundannahmen bewusst zu sein und verschiedene Sichtweisen einnehmen zu können. State of the art ist es jedenfalls, Leib und Seele zusammenzudenken, was in der Doppelperspektive „Körper haben, Leib sein“ zusammengefasst ist, mit dem Leib als seelisch durchdrungenem, empfindendem Körper, der losgelöst aber auch wieder zum Objekt eigener Beobachtung und Intentionalität werden kann.

In der Schulmedizin jedenfalls weist die Auseinandersetzung mit diesen impliziten Grundannahmen eine historische Relevanz auf: „Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Naturwissenschaft [sprich: materialistische Sichtweise, CD] dominant in der Medizin, und die Seele wurde aus der Medizin hinausgedrängt. Die Psychosomatik ist eine Gegenbewegung dazu.“, schreibt Paul L. Janssen in seiner Darstellung der Geschichte des Fachgebiets „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“2. Die Psychosomatik basiert auf drei Traditionen, zu denen der holistische Ansatz, der den Mensch gemäß biopsychosozialem oder systemischem Modell in seiner Ganzheit betrachtet, der psychoanalytische Ansatz, der ihn gemäß seiner psychodynamischen Entwicklung und interpersonellen Konflikte betrachtet, und der psychophysiologische Ansatz, der ihn verhaltensmedizinisch u. a. vor dem Hintergrund des Stresskonzepts betrachtet, zählen. Zum Versorgungsauftrag der Psychosomatik gehören Krankheitsbilder des gesamten leibseelischen Spektrums, so unter anderem: Depressionen, Angst-/Zwangsstörungen, Traumafolgestörungen, Essstörungen, somatoforme, dissoziative und Schmerzstörungen, körperliche Erkrankungen mit psychosozialen Auslösern/Verstärkern sowie Bewältigungsstörungen körperlicher Erkrankungen.

Psychosomatik und (Psychodynamische) Psychotherapie bilden dabei immer ein Ganzes: „Es liegt auf der Hand, dass Leiblichkeit immer eine Rolle spielt, wenn es vor dem Hintergrund psychischer Entwicklungsbedingungen und aktueller Lebenslagen zur Aufnahme einer Psychotherapie kommt. […] Belastete Entwicklung und psychopathologische Symptombildung können gerade als eine »Entleiblichung«, also als ein Verlust des leiblichen Durchdrungenseins, verstanden werden, als eine »Verkörperung«, also das bloße Körperlich-Sein, in dem der Körper funktionierendes Werkzeug sein soll bzw. ein solches nicht mehr ist.“3, konstatieren Storck/Brauner in ihrem Buch, und komplettieren an anderer Stelle: „Die Frage für die psychotherapeutische Arbeit ist offenkundig nicht, ob, sondern wie etwas psychogen bedingt ist.“4.

Die Psychodynamik psychosomatischer Störungen

„Viele Personen mit psychogen mitbedingten körperlichen Symptomen leiden dann psychodynamisch betrachtet (und zugespitzt formuliert) vorrangig daran, sich nicht vorstellen zu können, dass ein Gegenüber als psychisch und leiblich Getrennter ein Beziehungspartner sein und bleiben kann.“5

„Das Ich ist vor allem ein körperliches […]“6, das sich als Absonderung vom Es, der Triebquelle des Menschen, entwickelt, so Freud. Wie der Reiter zum Pferd steht das Ich zum Es und vertritt Realitätsprinzip sowie Sekundärprozess, während letzteres für Lustprinzip und Primärprozess steht. „Trieb“ definiert Freud als „ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist“7. Diese Arbeitsanforderung besteht darin, den Trieb mithilfe des Objekts zu befriedigen; die ersten Befriedigungserfahrungen des Säuglings/Kindes führen dabei zur Repräsentanzenbildung, „Psychisierung“ des Triebes durch Verknüpfung mit Beziehungs- und Handlungsvorstellungen, wodurch seine diffuse Erregungsspannung gebunden und innerpsychisch regulierbar wird. „Das Triebkonzept beschreibt eine Art von Vermittlungsfunktion von Erregung in Erleben.“8 Primärprozesshaft findet dies in Form von bildhaftem und symbolischem Denken statt, „halluzinatorischer Wunscherfüllung“, sekundärprozesshaft logisch, verbal und realitätsorientiert. Zwischen beiden Verarbeitungsformen wird heute ein Kontinuum angenommen. 

„Es liegt in dem Sinn eine »Triebpathologie« vor, als das Triebgeschehen gestört ist, keine Vermittlung erfolgt und sowohl Körper- als auch Gefühlsleben belastet sind.“9 Diese kann in Form einer Konversion, dem Sprung ins Körperliche im Dienste der Abwehr repräsentierter konflikthafter Triebe, vorliegen, oder in Form der Somatisierung, bei der Triebspannungen nicht psychisiert werden und im Körper verbleiben. Storck/Brauner fassen zusammen: „Während bei der Konversion davon ausgegangen wird, dass sich ein psychischer Konflikt körperlich zeigt (»symbolisch« bzw. expressiv) und sich somit im Körpersymptom (Lähmung, Ohnmacht, Beeinträchtigung der primären Sinnesorgane) sowohl dessen Wunsch- als auch dessen Verbotsseite ausdrückt, wird die Somatisierung als etwas gedacht, bei dem im Sinne einer Art Überflutung des Psychischen der Körper zum Austragungsort einer Überwältigung wird. […] Im durch Somatisierung gebildeten Körpersymptom muss der Körper unregulierbare und unqualifizierte Erregungsgrößen »aushalten«, ohne dass eine psychische Erlebnisperspektive (jenseits der diffusen Belastung oder Funktionseinschränkung) zur Verfügung steht.“10 Felix Deutschs Konzept des Konversionsstroms gemäß besteht ein kontinuierlicher Austauschprozess zwischen Psyche und Soma, dessen Unterbrechung letztlich zu einer Störung führt.

Die Transformation des ungebundenen Triebs in Repräsentanzen erfolgt entwicklungspsychologisch im Rahmen erster Befriedigungserfahrungen mit einem Objekt, das dann auch einen Niederschlag in den Repräsentanzen findet. Während die Triebe gemäß Freud ihre Quelle im Körperinneren haben, können auch von außen kommende Sinnesreize psychosomatische Erregungen erzeugen, die zu ihrer Regulation eine Transformation erfordern. Dies sind die Beta-Elemente gemäß Bions Container-contained-Modell, diffuse körperseelische „Rohdaten“, die mit einem „Katastrophenempfinden“ verbunden sind (z. B. Verängstigungen, emotionale Überforderungen, Folgen traumatischer Erfahrungen). Ihre Regulation erfolgt auch mithilfe des Objekts, und zwar indem sie ihm leibseelisch kommuniziert werden (v. a. nonverbal via Projektiver Identifikation), dieses sie dann contained, sie mit seiner Alpha-Funktion in verdaubare Alpha-Elemente transformiert und schließlich in reintrojizierbarer Form zurückkommuniziert. Dies setzt eine haltgebende Beziehung zum Objekt als einer Bezugsperson, zu der epistemisches Vertrauen besteht, voraus. Hieraus resultieren dann Verbindungen zwischen psychosomatischen Erregungen und inneren Bildern, Fantasien, Beziehungsvorstellungen, Worten und Gedanken, was auch als Symbolisierung bezeichnet wird. Über diese Beziehungserfahrungen entwickelt sich schließlich die Fähigkeit der Mentalisierung, d. h. die Fähigkeit, eigene und fremde innere Zustände verstehen zu können.

Idealtypische Entwicklung
Idealtypische Entwicklung

Scheitern die Prozesse der Psychisierung bzw. Symbolisierung unregulierter psychosomatischer Erregungen, kann es zur Ausbildung von psychosomatischen („Acting in“ / Somatisieren) oder Borderlinepathologien („Acting out“ / Agieren) kommen: „Und wenn kein Objekt vorhanden ist, das dieses Übermaß an Erregung aufnimmt und contained, findet keine Umwandlung in Verstehbarkeit statt und es eröffnet sich kein Zugang zu irgendeinem Repräsentationssystem. Das Herausbrechen ist unvermeidlich und kommt im Körperlichen oder im »Agieren« zum Vorschein. Betrachtet man Mentalisierung als die Fähigkeit der Psyche, Verstehensarbeit zu leisten, könnte man die Auffassung vertreten, dass die Demontage der mentalen Funktionsfähigkeit unter der Einwirkung traumatischer Faktoren zum »Agieren« ebenso wie zu somatischen Symptomen führen könnte. […] Bei beiden Patientengruppen ist eine Art »Kurzschluss« der Triebäußerungen zu beobachten: Im ersten Fall verliert sich die Triebspannung in den Körper (die im Körper ausgeübte Gewalt), im anderen Fall wird sie durch bestimmte Verhaltensweisen (dem Agieren) abgeleitet. Es scheint so, dass dies die verschiedenen Preise sind, die dafür gezahlt werden müssen, dass die Erregung abnimmt, da sie nicht mit den Mitteln des Sekundärprozesses weiterverarbeitet werden kann.“11

Dass auch hier das Ich vor allem – „vor allem“ ganz im zeitlichen Sinne – ein körperliches ist, betonen Storck/Brauner mit dem folgenden Statement: „Fähigkeiten, zu mentalisieren, entstehen grundlegend aus Berührungen in der frühen Zwischenleiblichkeit, weil dadurch ein Gewahrsein der Körpergrenzen von einem Selbst und des Gegenübers gebildet wird, was die Voraussetzung für einen mentalisierenden Austausch im Sinne einer reflexiven Funktion darstellt.“12Berührungen stimulieren und entwickeln das Gefühl für das eigene Körperselbst bei gleichzeitigem Erleben der Körperkontur und Leiblichkeit des Gegenübers, wodurch die physische Verortung von Ich und Du inklusive deren Abgrenzung repräsentiert werden. Angenehme Berührungen sind gleichzeitig eine wirksame Methode der Affektregulation: sie fördern die Wirkung von Endorphinen, den Abbau von Stresshormonen und die Ausschüttung von Oxytocin. Umgekehrt kann die sichere Abgrenzungsfähigkeit von Ich und Nicht-Ich, die sog. Subjekt-Objekt-Differenzierung, bei Überflutung mit körperlicher Erregung wieder verloren gehen: „Wenn das Subjekt mit einer ökonomischen Überforderung konfrontiert wird, regrediert es in einen Angstzustand, in dem die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr klar sind. Es gibt weder zwei noch drei: Alles ist dann eine undifferenzierte Einheit.“13 In diesem Angstzustand fehlen sowohl die eigenen Fähigkeiten zur Symbolisierung und Selbstberuhigung als auch ein containing object, weshalb Fragmentierung des Selbst und Regression in einen primären Verschmelzungszustand drohen. Subjekt-Objekt-Differenzierung und die Befähigung zur sicheren eigenen leibseelischen Verbundenheit, zur sicheren Verortung im eigenen Körperselbst, hängen unmittelbar zusammen, zeigen Storck/Brauner mit Verweis auf Armando Ferraris Axialem Modell auf: die Entwicklung des einen ist an die Entwicklung des anderen gekoppelt, misslingt die eine, misslingt auch die andere.

Im Falle beeinträchtigter Subjekt-Objekt-Differenzierung und leibseelischer Verortung gelten besondere Beziehungsdynamiken: „Entweder ist man einander gleich und auf diese Weise in Beziehung oder man ist unterschieden und damit absolut getrennt voneinander, sodass nur Einsamkeit und Isolation übrigbleiben. Das heißt nun auch, dass Beziehungswünsche zu etwas werden, in dem die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem verloren gehen muss, Nähesehnsüchte drohen immer im Selbstverlust zu enden. Sie abzuwehren oder zu hemmen kann aber wiederum nur im anderen Extrempol enden, in der absoluten Abgrenzung, in der Unterschiedenheit »Begegnungslosigkeit« heißt.“14 In dieser Beschreibung wird auch eine Konfliktpathologie skizziert, die sich im Grundkonflikt Individuation vs. Abhängigkeit gemäß OPD-2 wiederfindet. Diese Konfliktpathologie zählt nach Gerd Rudolf zu den entwicklungspsychologisch frühen Grundkonflikten, die ihm gemäß immer auch mit Ich-strukturellen Defiziten einhergehen, was man hier u. a. an der beeinträchtigten Subjekt-Objekt-Differenzierung sieht. Ursächlich in der Entstehung der geschilderten Pathologie ist, wie im vorangegangenen ausgeführt, ein nicht genügend befriedigendes bzw. containendes Gegenüber, weshalb die Befähigungen zur leibseelischen Verortung und Subjekt-Objekt-Differenzierung zusammenbrechen und eine Regression auf ein früheres, fragiles Niveau eintritt, auf dem Verschmelzungswünsche mit Selbstverlustängsten im Konflikt stehen. Aus diesem Konflikt kann eine weitere Folge entstehen, die Abkopplung von der eigenen Triebquelle (d. h. eigenen Lebendigkeit und Spontanität), weil diese mangels Regulationsmöglichkeiten als bedrohlich erscheint: „Was einen Zusammenbruch zu einem Zustand mit so schwerwiegenden Folgen macht, ist nicht allein die Tatsache, dass das Objekt unwiederbringlich verloren ist, sondern auch, dass ein solcher Verlust das Kind einer Triebüberflutung aussetzt, der es völlig unvorbereitet gegenübersteht. Langfristig kann dieser Zustand zu einer psychischen Konstruktion führen, in der jegliche Triebregung als große Gefahr erlebt wird. Der einzige Ausweg besteht dann darin, bereits an der Wurzel alles auszulöschen, was triebhaften Aktivitäten ähnlich ist; und dieser Wunsch nach Ausrottung kann das Risiko einer somatischen Erkrankung erhöhen.“15 Diese Abkopplung von der Triebquelle wird nach Freud als Verwerfung, ein Abwehrmechanismus, bezeichnet. Hier wird zudem eine weitere Ebene eingeführt: während die nicht psychisierten Triebe/Erregungsspannungen zu psychosomatischen Beschwerden sowie dem Zusammenbruch von Subjekt-Objekt-Differenzierung und leibseelischer Verortung führen können, kann die Verwerfung der Triebquelle die Entstehung körperlicher Erkrankungen begünstigen. Verwerfung setzt somit auf Somatisierung / Konversion auf und stellt einen Endpunkt im Kontinuum der Entleiblichung dar.

Die Abkopplung von bzw. Verwerfung der Triebquelle stellt sich klinisch als die sog. Essenzielle Depression dar: „[…] eine Form der Depression, die bei genauerer Betrachtung ein roboterartiges Handeln und eine Verarmung der psychischen Funktionen offenbart – mit anderen Worten ausgedrückt das von mir bereits erwähnte operative Leben [d. h. ein „materialistisches“ Leben unter nahezu vollständiger Abspaltung der seelischen Dimension, CD]. Die beiden Begriffe – operatives Leben und essenzielle Depression – sind also zwei Seiten derselben Medaille; sie bezeichnen zwei komplementäre Aspekte desselben Phänomens psychischer Verarmung, die jeweils in ihrer Dynamik beurteilt werden müssen.“16 Diese Form der Depression, vorrangig charakterisiert durch innere Leere, grenzt sich von der sog. Melancholischen Depression ab, ein Krankheitsbild, „[…] bei dem eine aktive Beschäftigung mit psychischem Schmerz, Schuld und Gefühlen des Schlechtseins vorliegt, möglicherweise unter Einschluss von Selbstmordgedanken. Bei dieser Art von Depression besteht ein ständiger Konflikt mit einem inneren Objekt, welches das Über-Ich beherrscht, den Patienten kritisiert und ihm vorwirft, schlecht zu sein.“17 Diese Definition führt noch eine weitere Differenzierung ein: die Verinnerlichung des frustrierenden Objekts. Die Verinnerlichung der Hilfs-Ich-Funktionen des containing objects dient der Entwicklung eigener Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und Haltgebung, wodurch zunehmend Autonomie und Unabhängigkeit von der Anwesenheit der Bezugsperson entstehen. Ist das Beziehungsangebot der Bezugsperson ungenügend, ambivalent oder aversiv, entsteht ein malignes inneres Objekt (auch malignes Introjekt), das sich wie im Zitat beschrieben als Überich-Pathologie auswirkt. Im Falle der Essenziellen Depression wiederum bleibt die Entwicklung eines inneren Objekts aus oder defizitär, weshalb die Betroffenen entweder von der Realpräsenz eines containing object abhängig sind und über wenig (psychische) Autonomie verfügen – ein Zustand, der vor allem bei Angst-/Panikstörungen vorliegt – oder ihre bedrohlich gewordene Triebquelle verwerfen müssen.

Mit folgendem Zitat möchte ich die vorangegangenen Ausführungen zusammenfassen: „Die Herausbildung von referenziellen Verknüpfungen, die dem entspricht, was wir im Allgemeinen als Symbolisierung bezeichnen, ist in hohem Maße von einer zufriedenstellenden Objektbeziehung abhängig. Die Verknüpfungen zwischen den Systemen können aufgrund mangelnden Containments (Reverie, Holding, Attunement) vonseiten der Eltern nur unzureichend ausgebildet oder nachträglich aufgrund von (akuten oder chronischen) Traumazuständen aufgelöst werden. Diese Abkopplung hinterlässt eine ungebundene und somit namenlose vorsymbolische Erregung, die nach Verknüpfung und/oder nach einer Möglichkeit sucht, unmittelbar zum Ausdruck zu kommen. […] Diese Abkopplung [hier im Sinne von Verwerfung und Essenzieller Depression, CD] kann sowohl von der Person selbst als auch von seinen Mitmenschen (einschließlich des Analytikers), die mit ihr in Beziehung stehen, als Dumpfheit, Langeweile oder Sinnlosigkeit erlebt werden. In anderen Fällen kann eine mangelnde Regulierung vorsymbolischer Erregung vonseiten des symbolischen Systems für das plötzliche Auftreten heftiger, unerklärlicher Emotionen, wie dies beispielsweise bei Panikattacken oder dem Pavor nocturnus der Fall ist, verantwortlich sein. Vorsymbolische Erregung kann unechte künstliche Verknüpfungen mit Symbolen eingehen (wie bei phobischen oder verfolgenden Objekten, die als Symbole dienen), die zu psychischen Störungen (z. B. Phobien, paranoide Störungen) oder Fehlverhalten (z. B. Essstörungen, Paraphilien, antisoziales Verhalten usw.) führen. Findet keiner dieser Vorgänge statt, kann es zur Entstehung von somatischen [d. h. körperlichen, CD] Erkrankungen kommen (Bucci, 2007; Solano, 2010).“18

Varianten pathologischer Entwicklung (Klicken zum Vergrößern)

Zur Behandlung psychosomatischer Störungen

„[…] dass eine der größten Herausforderungen in einer Behandlung darin besteht, für den Patienten ein auch affektiv (statt nur medizinisch) bedeutsamer Anderer zu werden.“19

Das Ich ist vor allem ein körperliches, die seelische Entwicklung baut auf Trieben, psychosomatischen Erregungen und leibseelischen Impulsen auf. Deren Frustration, Fehl- oder ausbleibende Symbolisierung durch Bezugspersonen in wichtigen psychischen Entwicklungsphasen wiederum führt zur psychosomatischen Krankheitsentwicklung. Darüberhinaus können Traumatisierungen bestehende Symbolisierungen beschädigen und eine Resomatisierung oder Konversion herbeiführen. 

Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, dass dieses Krankheitsgeschehen als Beziehungspathologie zu verstehen ist. Die psychotherapeutische Beziehung wiederum kann ein Ort für dessen Heilung sein. Hierfür muss sie einerseits die versäumten Beziehungserfahrungen von Holding/Containment/Symbolisierung zur Verfügung stellen, andererseits die entstandenen Abwehrprozesse wie z. B. Verwerfung, Resomatisierung oder Konversion konfrontieren, deuten und durcharbeiten. Dies erfordert ein besonderes Verständnis für das Beziehungsangebot psychosomatischer Patient:innen, nämlich „[…] dass bestimmte Phänomene in der Symptomatik und erst recht in der (therapeutischen) Beziehungsgestaltung von einer Art Negativismus gekennzeichnet sind: Es imponiert die Zurückweisung von Bedeutung oder Beziehung. […] Begreift man das Symptom als Mittel der Abgrenzung sowie des Schutzes vor Überflutung oder Grenzüberschreitung (auch in dessen kommunikativer Funktion; Küchenhoff, 2019), dann hat das Konsequenzen für das Verständnis von Übertragungsprozessen.“20 Die Übertragung, d. h. die Wiederholung der Störung in der Therapiebeziehung, ist nämlich gekennzeichnet durch Affektleere (aufgrund von Verwerfung), Konkretismus (Orientierung am Physischen aufgrund mangelnder Beheimatung im Seelischen) und fehlender Verbundenheit (aufgrund des Dilemmas von Verschmelzungswünschen und Selbstverlustängsten). Psychosomatische Patient:innen unterscheiden sich damit in ihrem Beziehungs- und Übertragungsangebot von Patient:innen mit anderen Störungsbildern. Mit ihnen ein Arbeitsbündnis zu entwickeln stellt eine der zentralen Herausforderungen dar, ebenso wie in einen psychotherapeutischen Dialog einzutreten. Hierfür kann es oftmals hilfreich sein, zunächst eine stationäre Behandlung im multimodalen Setting, das z. B. Kunst- und Tanztherapie sowie pflegerische und sozialpädagogische Angebote umfasst, zu erwägen, bevor eine ambulante Behandlung fruchten kann.

Grade wegen des Beziehungsfokus‘ sind Psychodynamische Behandlungen sehr menschliche Behandlungen, in denen sich humanistische und fürsorgliche Werte realisieren, oder mit Worten von Storck/Brauner zum Abschluss: „Dies unterscheidet nach wie vor eine analytische Behandlung von anderen Therapieformen: Das Durchschreiten einer persönlichen emotionalen Krisenerfahrung in der Behandlung wird zum Weg des Verstehens und Veränderns genommen.“21


  1. Nagel, Thomas/Gebauer: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie: [Was bedeutet das alles?], Stuttgart, Deutschland: Reclam, 2020, S. 37. 
  2. Janssen, Paul/Peter Joraschky/Wolfgang Tress: Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: Orientiert an den Weiterbildungsrichtlinien der Bundesärztekammer, 2., komplett überarbeitet und erweitert, Köln, Deutschland: Deutscher Ärzteverlag, 2009, S. 2. 
  3. Storck, Timo/Felix Brauner: Körpergefühl (Analyse der Psyche und Psychotherapie), Gießen, Deutschland: Psychosozial-Verlag, 2021, S. 56. 
  4. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.62. 
  5. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.99. 
  6. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. GW XIII, London, England: Imago Publishing Co., ltd., 1940, S. 253. 
  7. Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale. GW X, London, England: Imago Publishing Co., ltd., 1915, S. 214. 
  8. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.23. 
  9. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.35. 
  10. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.32. 
  11. Press, Jacques/Fotis Bobos/Jörg Frommer/Marina Perris-Myttas/Eva Schmid-Gloor/De Bérengère Senarclens/Christian Seulin/Luigi Solano/Nick Temple/Jorge Canestri/Aylin Akkuş: Den Körper erleben: Ein psychoanalytischer Dialog über Psychosomatik (Bibliothek der Psychoanalyse), Gießen, Deutschland: Psychosozial-Verlag, 2021, S. 102. 
  12. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.53. 
  13. Vgl. Press/Bobos/Frommer/Perris-Myttas/Schmid-Gloor/de Senarclens/Seulin/Solano/Temple/Canestri/Akkuş, 2021, S. 104. 
  14. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.81. 
  15. Vgl. Press/Bobos/Frommer/Perris-Myttas/Schmid-Gloor/de Senarclens/Seulin/Solano/Temple/Canestri/Akkuş, 2021, S. 67. 
  16. Vgl. Press/Bobos/Frommer/Perris-Myttas/Schmid-Gloor/de Senarclens/Seulin/Solano/Temple/Canestri/Akkuş, 2021, S. 62. 
  17. Vgl. Press/Bobos/Frommer/Perris-Myttas/Schmid-Gloor/de Senarclens/Seulin/Solano/Temple/Canestri/Akkuş, 2021, S. 68. 
  18. Vgl. Press/Bobos/Frommer/Perris-Myttas/Schmid-Gloor/de Senarclens/Seulin/Solano/Temple/Canestri/Akkuş, 2021, S. 190-191. 
  19. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.83. 
  20. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.78. 
  21. Vgl. Storck/Brauner, 2021, S.89.