Frühstörungen

In diesem Beitrag, der als Fortsetzung des Beitrags „Konflikt-, Struktur- und Traumapathologie“ gelesen werden kann, möchte ich einen Überblick über die sog. Frühstörungen bieten. Ich beginne mit einem ausgewählten historischen Abriss der Theorieentwicklung, gehe dann über zu gegenwärtigen Behandlungsansätzen, zeige daraus abgeleitet behandlungstechnische Kontroversen und deren mögliche Auflösung und schließe mit einem kurzen Fazit.

Von Trauma über Konflikt zu Ich und Selbst

Freud und Breuers „erste“ Psychoanalyse war eine noch zentral traumafokussierte Psychotherapie – es galt, zunächst mittels Hypnose, später mittels Freier Assoziation, die verdrängte Urszene samt „eingeklemmtem“ Affekt aus der Verdrängung ins Bewusstsein zu heben und durch kathartischen Affektausdruck die „hysterischen“ Symptome zu heilen -, Freuds „zweite“ Psychoanalyse hingegen entwickelte sich zur Trieb- und Konfliktpsychologie, die innerhalb Es-Ich-Überich konflikthafte innere Strebungen aufzudecken sucht, deren problematischer Kompromiss sich als psychische Erkrankung ausdrückt.
Der späte Freud und die folgenden Analytiker:innengenerationen fokussierten dann Ich und Selbst der Patient:innen, und die frühe Kindheit wurde Forschungsschwerpunkt, womit präödipale Störungen gegenüber dem Ödipuskomplex konzeptualisiert und behandlungsfähig wurden. Die Bindungstheorie und -forschung, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie ebneten den Weg für behandlungstechnische Ergänzungen des Standardverfahrens, was einen Zugang zu Menschen mit z. B. narzisstischen, schizoiden oder Borderlinestörungen ermöglicht. Diese Störungen werden in heutiger klinischer Terminologie als Strukturelle Störungen (oder auch – noch – als Persönlichkeitsstörungen) zusammengefasst, in Abgrenzung zu den umschriebenen neurotischen Störungen, denen meist eine Konfliktpathologie, „reifere Störung“, zugrundeliegt.

Melanie Klein, Wilfred Bion und Donald Winnicott

Kleins Konzeptualisierung der Paranoid-schizoiden und Depressiven Position legte einen Grundstein zum (objektbeziehungstheoretischen) Verständnis Struktureller Störungen und erweist sich einer beständigen klinischen Anwendbarkeit. Hiervon ausgehend möchte ich ausgewählte entwicklungspsychologische Perspektiven besagter Analytiker:innengenerationen, die maßgeblich zur Entstehung von Konzepten von Frühstörungen / präödipalen Störungen beigetragen haben, darstellen.

Der Schwarz-Weiß-Blick: gespaltene Objektwahrnehmung

In den ersten Lebensmonaten wird die Paranoid-schizoide Position als normale Entwicklungsphase verstanden. Das kindliche Erleben ist hier von heftigen Widersprüchen gegenüber seinen Bezugspersonen geprägt, die aus liebevollen, begehrenden sowie hasserfüllten, zerstörerischen Wünschen und Impulsen bestehen. Zugrunde liegt eine starke Abhängigkeit von den Bezugspersonen, die vom überlebenswichtigen Angewiesensein auf sie ausgeht. Werden die negativen Impulse für das Kind zu überwältigend, gerät es in einen Konflikt mit seinen Abhängigkeitsbedürfnissen, und der Abwehrmechanismus der Spaltung (hier als schizoid bezeichnet) wird eingesetzt, um Komplexizität und Widersprüchlichkeit zu reduzieren: negative und positive Beziehungserfahrungen werden voneinander getrennt. Oftmals reicht die Spaltung nicht, um die inneren Konfliktspannungen zu beruhigen, weshalb als zweiter Abwehrmechanismus die Projektion angewendet wird: die schwierigen inneren Impulse, Zustände oder Fantasien werden nicht mehr sich selbst, sondern anderen Menschen zugeschrieben. Wird auf die betreffenden Personen zusätzlich noch eingewirkt, dass sie die Projektionen übernehmen oder ihnen gemäß handeln, spricht man von Projektiver Identifikation.
Die projizierten eigenen Anteile werden schließlich als von außen auf das Selbst zukommend erlebt und bekommen einen verfolgenden Charakter, was den paranoiden Anteil der Position ausmacht.

In einem lesenswerten Artikel in Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie (Grimmer, B. (2020). Die paranoid-schizoide und die depressive Position. PTT – Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie, 24(4), 294–302. https://doi.org/10.21706/ptt-24-4-294) fasst Bernhard Grimmer die Paranoid-schizoide Position wie folgt prägnant zusammen: „Zusammenfassend zeichnet sich die paranoid-schizoide Position dadurch aus, als unerträglich erlebte Konflikte in den frühen Abhängigkeitsbeziehungen durch Spaltung und Projektion von Konfliktanteilen zu mindern, was als psychische Organisationsform und Funktionsweise auch im späteren Leben vorherrschend bleiben kann.“ Die Paranoid-schizoide Position kann im späteren Leben entweder durch Fixierung vorherrschen, d. h. in der Kindheit fand keine Weiterentwicklung zur Depressiven Position (s. u.) statt, oder durch Regression, d. h. sie kann unter Belastung wieder auftreten. Heinz Weiß stellt in einem lesenswerten Buch (Weiß, H. (2017). Trauma, Schuldgefühl und Wiedergutmachung: Wie Affekte innere Entwicklung ermöglichen. Klett-Cotta Verlag.) im Kontext komplexer Traumatisierungen dar, wie es zur Fixierung kommt, und zeigt die Bedeutung nichtresonanter, intrusiver oder gewaltsamer Beziehungen in der frühkindlichen Umgebung auf. So sind es dann oft die gleichen grausamen und vernachlässigenden Eltern, auf die sich das Kind in seiner Verzweiflung angewiesen fühlt, so dass es, um etwas Gutes zu bewahren, zu Verleugnung und Spaltung Zuflucht nimmt. Hieraus abgeleitete Beziehungsmuster haben die Tendenz, sich i. S. eines Wiederholungszwangs im weiteren Lebenslauf fortzusetzen, sodass z. B. Partnerschaften oder Freundschaften mit gewalttätigen, betrügenden oder kaltherzigen Menschen eingegangen werden. „Wenn Hass und Frustration vorherrschen,“, so Otto Kernberg schließlich, „bleibt die Spaltung zwischen idealisierten und verfolgenden Beziehungen bestehen, mit den typischen Anzeichen einer protektiven Selbstüberhöhung und Entwertung von anderen – im Sinne einer narzisstischen Abwehr -, oder mit einer Tendenz, die eigene Aggression mit einem misstrauischen, angsterfüllten und kontrollierenden Unterton auf die Umwelt zu projizieren – im Sinne der paranoiden Abwehr.“ (Kernberg, O. F. (2014). Liebe und Aggression. Stuttgart, Deutschland: Schattauer.)

Ganzheitliche Objektwahrnehmung – ein Reifungsschritt nicht ohne Preis

Erst wenn die Spaltung nachlässt, resümiert Weiß, „entdeckt das Individuum, dass es das gleiche Gegenüber ist, das es liebt und hasst, von dem es enttäuscht wird und das ihm Befriedigung gewährt.“ Aus der Paranoid-schizoiden Position entwickelt sich so die Depressive Position, in der es zu einer Integration der zuvor gespaltenen Anteile kommt, Mentalisierungs- und Symbolisierungsfähigkeit zunehmen, den Bezugspersonen ein Eigenleben zugesprochen werden kann und schließlich Schuldgefühle für die eigenen destruktiven Impulse entstehen. Verlustangst und Trauer sind neben den Schuldgefühlen ebenfalls zentrale Affekte, was die Bezeichnung Depressive Position ausmacht. Sie stellt als Entwicklungsschritt eine Errungenschaft dar, die v. a. durch eine differenziertere Objektwahrnehmung und die Befähigung zur Regulation von Konfliktspannungen im eigenen psychischen Innenraum (d. h. Projektionen nehmen ab) gekennzeichnet ist. Sie geht mit Reifung von u. a. den ich-strukturellen Fertigkeiten Ganzheitliche Objektwahrnehmung, Realistische Objektwahrnehmung, Subjekt-/Objekt-Differenzierung, Internalisierung, Empathie und Beziehung Schützen gemäß OPD-2 einher. John Steiner führt im Vorwort zu Weiß‘ Buch aus, dass es so möglich wird, „gute Objekte sowie die guten Aspekte komplexer Objekte auf eine tiefere Art zu lieben“, aber „auch schlechte Objekte, die das Trauma wirklich zufügten, können dann realistischer als schlecht erkannt werden.“

Der Übergang von der Paranoid-schizoiden zur Depressiven Position ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen, wie Heinz Weiß in seinem o. g. Buch weiter aufzeigt. Diese entstehen durch das gleichzeitige Wahrnehmen guter und schlechter Aspekte einer Bezugsperson, z. B. die liebevollen, fürsorglichen und enttäuschenden, zurückweisenden Erfahrungen mit ihr, was mit dem gleichzeitigen Wahrnehmen der eigenen liebevollen und hasserfüllten Impulse ihr gegenüber einhergeht. Durch diese integrierte bzw. ganzheitliche Wahrnehmung entstehen für die negativen Impulse Schuldgefühle dem eigentlich guten Objekt gegenüber, die dann wiederum so bedrohlich werden können, dass eine Regression auf die Paranoid-schizoide Position erfolgt. Inwiefern der Schritt in die Depressive Position gelingt, hängt dann einerseits von der Interaktion mit den Bezugspersonen ab, und andererseits vom Verhältnis positiver zu negativen Qualitäten (Kernberg: Überwinden der Spaltung unter Vorherrschaft der Libido über die Aggression). Hierbei bildet sich auch das Überich aus, gemäß Melanie Klein an der realen Mutter orientiert, welches die Schuldgefühle letztlich binden kann. Mit einem aggressiven, strafenden Anteil begegnet es vom Objekt als unerwünscht erlebtem Verhalten, mit einem libidinösen, belohnenden Anteil (auch Ich-Ideal) begegnet es vom Objekt als erwünscht erlebtem Verhalten, und gibt so soziale Orientierung vor. Das Überich steht dabei in Beziehung zum Entwicklungsstand der Objektwahrnehmung: werden andere Menschen noch eher in den Kategorien nur-gut oder nur-schlecht erlebt, ist es archaischer, verfolgender ausgeprägt und verursacht leidvolle Scham- und Schuldgefühle, ist die Objektwahrnehmung ganzheitlicher und integrierter, ist es milder und förderlicher ausgeprägt und kann Halt und Sicherheit vermitteln.

Schuldgefühle, Wiedergutmachungsimpulse, Zerstörung und Überleben des Objekts

Schuldgefühle wiederum lösen Wiedergutmachungsimpulse aus, die sich auch auf die inneren Objekte, d. h. die inneren Bilder, die innere Sichtweise der anderen, beziehen. Wiedergutmachung soll so die Beschädigung der inneren Welt wieder ausgleichen und begrenzen, so Weiß, und die zerstörerischen und selbstzerstörerischen Kräfte, die z. B. durch frühkindliche Traumatisierungen hervorgerufen wurden, eindämmen. Wiedergutmachung, die Versöhnung mit den inneren Objekten durch deren Wiederganzwerdung, ist somit ein wesentlicher Bestandteil des Übergangs zur Depressiven Position, ohne den psychische Entwicklung stehenbleibt und Wiederholungszwänge persistieren. „Überich und Wiedergutmachung stehen demnach in einer komplexen Wechselbeziehung: auf der einen Seite ist die Fähigkeit zur Wiedergutmachung auf die Verfügbarkeit eines relativ gutartigen Überich angewiesen. Auf der anderen Seite kann sich ein solches Überich aber nur dann entwickeln, wenn Projektionen zurückgenommen werden und Wiedergutmachungsprozesse in Gang kommen“, zeigt Weiß auf. Wiedergutmachungsprozesse „können entweder auf der Ebene der Integration von Liebes- und Hassgefühlen scheitern, weil die dadurch entstehende Verbindung zu bedrohlich ist. Auf der anderen Seite erlaubt die Vorherrschaft eines archaischen Überich keine wirkliche Integration von Schuldgefühlen, sodass diese entweder als verfolgend erlebt oder gegen das eigene Selbst gerichtet werden.“ Die Mutter erleichtert diesen Prozess, indem sie die in sie verlagerten Projektionen aufnimmt und hält, sie „contained“ und „verdaubar“ zurückgibt. Wilfred Bion hat dieses mütterliche Interaktionsmodell mit seinem Container-Contained-Konzept zu einem wesentlichen Bestandteil analytischer Therapie herausgearbeitet. Die/der Therapeut:in gilt hierbei als Container, in deren/dessen Psyche die Projektionen verlagert und aufbewahrt werden können. Schon dieses Containment hat dabei verändernden Charakter; danach gilt es dann, die projizierten Inhalte so zurückzugeben, dass sie reinternalisiert werden können, d. h. ins eigene Selbst wieder integriert werden können.

Donald Winnicott hat – in meiner Lesart – das oben dargestellte Prozessmodell in seinem berühmten Artikel „The Use of an Object and Relating through Identifications“ lesenswert in eigenen Worten ausformuliert und um weitere Aspekte ergänzt. Er beschreibt die Entwicklung von einer unreifen Beziehungsform zur Bezugsperson, die er „object-relating“ nennt und in der das Objekt ein „Bündel aus Projektionen“ ist, zu einer reiferen Beziehungsform, die er „use of an object“ nennt und in der das Objekt als eigenständig, nicht mehr als verlängerter Arm des eigenen Wesens erlebt wird. Zwischen beiden Positionen befindet sich eine „Intermediate Position“, eine Übergangsposition, in der etwas besonderes passiert: „after ‚subject relates to object‘ comes ‚subject destroys object‘ and then may come ‚object survives destruction by the subject‘“. Ogden (Ogden, T. H. (2016). Destruction reconceived: on Winnicott’s ‘The use of an object and relating through identifications’. The International Journal of Psychoanalysis97(5), 1243–1262. https://doi.org/10.1111/1745-8315.12554) führt aus, dass es bei der notwendigen Zerstörung des Objekts in dieser Übergangsphase nicht um das innere Objekt, sondern das reale, äußere Objekt geht. Bezogen auf die Mutter-Kind-Beziehung heißt dies nach Ogden, dass das Erleben der Mutter, eine gute Mutter zu sein, angegriffen und zerstört wird. (Im therapeutischen Prozess kann dies das Gefühl des Therapeuten, ein guter Therapeut zu sein, sein, aber auch die psychotherapeutische Methode oder die psychotherapeutische Behandlung). „Als Eltern müssen wir uns von unseren Kindern (psychisch und physisch) töten lassen, ‚damit wir sie nicht herabsetzen‘, indem wir ihre Errungenschaften der Autonomie schmälern“. Die Aufgabe der Bezugsperson ist dabei, „zu überleben“ und das Überleben zu kommunizieren. Hierbei wird sie mitunter emotionale Unterstützung von anderen benötigen. Im Kommunizieren des überlebten Angriffs wird für das Kind ein Schmerz in der Bezugsperson spürbar, wodurch dieses sie als eigenständige Person erfahren kann, was ein wesentliches Element der Übergangsposition ist, so Ogden. Meines Erachtens stellt dies die „verdaubare“ Rückgabe projizierter Inhalte dar und knüpft an die Entstehung von Schuldgefühlen und Wiedergutmachungsimpulsen an. Ogden betont dabei, dass „destruction“ kein Ausdruck von Wut ist, und dass die größte Herausforderung der Bezugsperson ist – so mein Verständnis -, nicht in Rache, Reue oder Abwehr zu verfallen, sondern die Projektion, nicht gut genug zu sein, zu „containen“ und „verdaubar“ zu beantworten. Ein unreflektiertes Agieren aus Rache, Reue oder Abwehr würde das Kind und seinen Prozess beschädigen und den Schritt in die Depressive Position, zum „use of an object“, blockieren. Ogden weist abschließend noch auf die Gefahr hin, dass das Objekt die Zerstörung nicht überlebt, was durchaus passieren kann und für beide Beteiligten ein Desaster wäre. Wie und dass dies letztlich in Therapien von Bedeutung ist, zeigt Kernberg auf: „[…] dabei sollte besonders der Impuls des Patienten beachtet werden, das, was vom Analytiker kommt, zu zerstören, aber auch die wie auch immer geartete Hoffnung, der Analytiker möge die Aggression des Patienten überleben.“ (Kernberg, O. F. (2014). Liebe und Aggression. Stuttgart, Deutschland: Schattauer.)

Abhängigkeit, Feindseligkeit und Bedrohungserleben

Zusammengefasst zeigt sich im Konzept der Frühstörung ein Gesamtbild aus starken, frühkindlichen Abhängigkeits- bzw. Bindungsbedürfnissen, aus einer konflikthaften Aggression, die in Gut und Böse spalten lässt, sowie aus Feindseligkeit und Bedrohungserleben, welche aus Projektionen resultieren. Die Überwindung dieses Zustandes findet in einer tragenden Beziehung statt, die die heftigen Angriffe angemessen beantwortet, aushält und überlebt. Dies ermöglicht eine emotional korrektive Erfahrung, die durch die Überwindung der Spaltung Schuldgefühle entstehen lässt, deren Wiedergutmachungsarbeit zu integrierten Selbst- und Fremdbildern führt.

Kernberg fasst das Ergebnis eines solchen Prozesses zusammen: „Gelingt […] die Integration idealisierter und verfolgender Selbst- und Objektrepräsentanzen, entwickelt sich die Fähigkeit zu einer realistischeren Selbsteinschätzung. Gute und schlechte Anteile bei sich und bei anderen können toleriert werden, auf eigene aggressive Äußerungen kann mit Schuldgefühlen und Sorge reagiert werden und die Beziehung zu den Elternfiguren kann sich vertiefen. Es entstehen der Wunsch nach Wiedergutmachung, Ambivalenztoleranz sowie das Bestreben, eine ideale Beziehung wiederherzustellen, in der den verinnerlichten Ge- und Verboten Genüge getan wird, und um ein Gefühl der Sicherheit zu entwickeln und sich im Einklang mit dem eigenen Über-Ich und Ich-Ideal zu fühlen.“ (Kernberg, O. F. (2014). Liebe und Aggression. Stuttgart, Deutschland: Schattauer.)

Grimmer weist in seinem o. g. Artikel noch darauf hin, dass der Begriff Position einen schnelleren Wechsel zwischen beiden Zuständen impliziert als z. B. der Begriff Strukturniveau. Er postuliert ein Oszillieren zwischen beiden Positionen, zwischen Integrationsbewegungen in Richtung Depressiver Position und Fragmentierung in Richtung Paranoid-schizoider Position. „Im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung kommt es beispielsweise immer wieder vor, dass ein Patient die Ängste und den psychischen Schmerz, der durch die Intensivierung der Konflikte auf der depressiven Position entsteht, nicht erträgt und regressiv auf die Abwehrmechanismen der paranoid-schizoiden Position zurückgreift.“ Ogden wiederum skizziert in einem anderen Artikel die depressive Position als nie vollständig zu erreichendes Ideal. Im Oszillieren besteht aber auch das Potential zu Entwicklung, so Grimmer, denn „die depressive Position neigt zur Erstarrung, Stagnation, Verschlossenheit und es bedarf auch der paranoid-schizoiden Position, um über Fragmentierungen und die Spaltung von Verbindungen Veränderungen und Entwicklungen anzustoßen.“

Die Behandlung Struktureller Störungen

Innerhalb der Psychodynamischen Psychotherapie haben sich bis dato vier etablierte Spezialverfahren herausgebildet, die auf die Behandlung Struktureller Störungen ausgerichtet sind: die Übertragungsfokussierte Psychotherapie, die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie, die Strukturorientierte Psychotherapie und die Psychoanalytisch-interaktionelle Methode.

Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie ist ein manualisiertes psychodynamisches Verfahren nach Clarkin, Yeomans und Kernberg, das insbesondere mit den Abwehrmechanismen Spaltung und Projektion arbeitet. Im zugrundeliegenden entwicklungspsychologischen Modell wird davon ausgegangen, dass bis zum dritten Lebensjahr positive und negative Beziehungserfahrungen in voneinander getrennten Gedächtniskompartimenten gespeichert werden. Diese sog. negativen und positiven Teilobjektbeziehungsdyaden bestehen aus verinnerlichten Objektbildern, die mit dem zugehörigen Affekt und Selbstbild verbunden sind. Sie können in späteren Begegnungen reaktiviert und übertragen werden, wodurch diese durch die Brille früher Erfahrungen erlebt werden. Ab dem dritten Lebensjahr verbinden sich positive und negative Teilobjektbeziehungsdyaden zu einer ganzheitlichen Objektwahrnehmung, auch Objektkonstanz genannt. Wo vormals heftige positive oder negative einem Menschen gegenüber vorherrschten, sog. entmischte Affekte, sind negative und positive Affekte nun gemischt bzw. gepuffert, da ein Bewusstsein um die Gesamtheit der miteinander gemachten Erfahrungen besteht. Das Phänomen der Identitätsdiffusion, gekennzeichnet durch ständig wechselnde Vorstellungen von sich und anderen, weicht hierdurch zugunsten einer integrierten Identität mit stabilen Vorstellungen positiver und negativer Eigenschaften von sich und anderen.
Merkmale einer Borderlinepersönlichkeitsorganisation sind demgemäß Identitätsdiffusion, heftige bzw. entmischte Affekte sowie Spaltung/Projektion. Die Realitätsprüfung ist dabei intakt bzw. in der Regel schnell wieder herstellbar, was ein Abgrenzungsmerkmal zu psychotischen Störungen ist.
Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie nutzt die Therapiebeziehung (= Übertragung), in der sich die Teilobjektbeziehungsdyaden erfahrungsgemäß abbilden, sowie den psychodynamischen Interventionsdreiklang Klarifikation, Konfrontation, Deutung.

Die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie ist ein auf Anthony Bateman und Peter Fonagy zurückgehendes Psychotherapieverfahren, das die Fähigkeit des Mentalisierens, d. h. sich auf die inneren Zustände von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrundeliegend zu begreifen und darüber nachdenken zu können, fokussiert. Dieses ist bei Persönlichkeitsstörungen beeinträchtigt und kann durch gezielte Interventionen gefördert werden, wodurch die Beziehungsgestaltung der Patient:innen verbessert wird. Im hier zugrundeliegenden entwicklungspsychologischen Modell sind u. a. Bindung, Empathie und Spiegelung von Bedeutung. Wenn in bindungsrelevanten Situationen das Mentalisieren zusammenbricht, treten als Ausdruck einer bedrohten Selbstkohärenz sog. prämentalistische Modi auf und die Gefahr der Entwicklung eines falschen Selbst entsteht. Zu den prämentalistischen Modi zählen der teleologische Modus, in dem nur physisch Konkretem wie z. B. Handlungen Bedeutung beigemessen wird, der Äquivalenzmodus, in dem Gefühle und äußere Realität gleichgesetzt werden, sowie der Als-ob-Modus, in dem innerer Zustand und äußere Realität streng getrennt werden, entkoppelt sind.
Die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie verzichtet in ihrer Methodik auf Deutungen und Interpretationen und folgt dem Prinzip Frage, das eine Haltung von Neugier und Nicht-Wissen umfasst.

Das Resümee im Lehrbuch „Psychodynamische Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen“ (Clarkin, J. F. (2012). Psychodynamische Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen: Handbuch für die klinische Praxis. Stuttgart, Deutschland: SCHATTAUER.) zum Vergleich beider Verfahren ist u. a., dass 1.) es keinen allgemeingültigen Weg gibt, der zu Veränderung führt, 2.) verschiedene therapeutische Modelle in der Behandlung von Borderlinestörungen wirksam zu sein scheinen, 3.) sowohl die Übertragungsfokussierte als auch die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie die Mentalisierungsfähigkeit der Patient:innen verbessern, und 4.) ein stabiles Arbeitsbündnis in allen Psychotherapien von Bedeutung ist.

Die Strukturbezogene Psychotherapie nach Gerd Rudolf versteht sich als ein Modul psychodynamischen Arbeitens neben anderen und fokussiert die Förderung ich-struktureller Fähigkeiten (s. auch Blogbeitrag „Konflikt-, Struktur- und Traumapathologie“). Gerd Rudolf stellt einen strukturbezogenen Interventionsmodus dem der Konfliktbearbeitung diametral gegenüber und empfiehlt eine angepasste Haltung einzunehmen: „Es ist zwecklos, mit einem Menschen eine gute Beziehung zu suchen, der in seiner inneren Beziehungsbereitschaft höchst fragil und misstrauisch-aversiv eingestellt ist. Die Vorleistung des Therapeuten ist es, dem Patienten überhaupt eine Beziehung anzubieten und an diesem Angebot festzuhalten, obwohl der Patient sich schlimmstenfalls zurückweisend, entwertend und distanzlos fordernd verhält.“ (Rudolf, G. (2014). Strukturbezogene Psychotherapie. PiD – Psychotherapie im Dialog, 15(03), 44–47. https://doi.org/10.1055/s-0034-1388635)
Ich möchte – neben aller Würdigung des grundlegenden und klinisch hoch bedeutsamen Konzepts der Strukturbezogenen Psychotherapie – an dieser Stelle Kritikpunkte von Joachim Küchenhoff (Küchenhoff, J. (2004). Psychodynamische Kurz- und Fokaltherapie. Stuttgart, Deutschland: Schattauer) anfügen, die ich teile:
„Im Konzept der strukturbezogenen Psychotherapie wird einerseits die Strukturpathologie als Ergebnis frühester Konflikterfahrungen verstanden. Andererseits wird eine scharfe Grenze zwischen Konflikt und Struktur gezogen. Die Notwendigkeit für eine solche Bestimmtheit der Unterscheidung leuchtet nur zum Teil ein.“
„Als ob jede Ich-Modifikation einem Ich-Defekt (konstitutionelle Schädigung) oder einer Ich-Abweichung (Entwicklungsstörung) geschuldet sei, und nicht ebenso gut einer Ich-Verzerrung (Verinnerlichung von falschen Wahrnehmungen der Selbst-Objekt-Repräsentanzen) oder einer Ich-Regression (also einer abwehrbestimmten Rückentwicklung der Ich-Funktion) sich verdanken könnte.“
„Wenn das Grundverständnis ein dynamisches und entwicklungsdynamisches bleibt, auch bei schweren Einschränkungen der strukturellen Möglichkeiten, vermittelt der Therapeut mit seiner Haltung, dass die Einschränkungen zum Beispiel der Affektwahrnehmung – wie sie in der Alexithymie erscheint – eine Reaktionsform, ein radikaler Entzug der Erlebnisbasis gewesen sind, also eine Art von Notfallreaktion oder Überlebensstrategie.“
„Einschränkungen der Ich-Struktur als (frühe oder primitive) Abwehr zu verstehen, bedeutet, wenigstens ansatzweise eine Ich-Aktivität zu sehen, wo sonst nur Pathologie zu herrschen scheint – und diese Suche nach dem Ort des Ichs, auch wenn es sich weit zurückgezogen zu haben scheint, ist die beste Ich-Stützung für die Patienten.“

Die Psychoanalytisch-interaktionelle Methode geht auf Annelise Heigl-Evers und Franz Evers zurück und ist Teil des Göttinger Modells für Gruppenpsychotherapie, wird seit längerem aber auch in Einzeltherapien angewendet. Behandlungsziel ist die Förderung der Entfaltung einer normativen Verhaltensregulierung, sodass somit ein neues Sozialverhalten erlernbar wird. Durch Erlernen und Erleben korrektiver Beziehungserfahrungen soll eine pathogene durch eine benigne Objektbeziehung abgelöst werden. Auch aus Sicht der PIM besteht bei strukturellen Störungen ein Objektbeziehungsniveau, das vor dem Erreichen der Objektkonstanz (s. o.) etabliert worden ist. Dies bedeutet, dass die Selbst- und Objektrepräsentanzen nicht ausreichend differenziert und voneinander getrennt sind, was allerdings bewirke, dass solche Patient:innen nicht in der Lage seien, den Therapeuten zur Verlagerung und Projektion von Gefühlen und Einstellungen gegenüber Objekten aus der Vergangenheit zu benutzen.
Aus dieser Sicht komme es also nicht zur Entwicklung von Übertragungen, weshalb auf Deutungen verzichtet wird. Stattdessen wird das Prinzip Antwort genutzt, mit dem der Therapeut durch selektive Selbstoffenbarung den Patient:innen ihr manifestes Verhalten und dessen Wirkung auf seine Interaktionspartner bewusster machen soll.
Janssen und Sachs (Janssen, P. L. & Sachs, G. (2018). Psychodynamische Gruppenpsychotherapie: Theorie, Setting und Praxis. Stuttgart, Deutschland: SCHATTAUER.) sehen die Antworten des Therapeuten durch Interpretationen geleitet und somit nicht frei von Deutungen, ebenso Karl König (König, K. (1998). Übertragungsanalyse. Göttingen, Deutschland: Vandenhoeck & Ruprecht.). Durch antwortendes Therapeutenverhalten können Patient:innen potentiell gekränkt werden. Letztlich bewerten Janssen und Sachs das Prinzip Antwort als modifiziertes Feedbacksystem, das in der Psychodynamischen Gruppenpsychotherapie in bestimmten Situationen auch angewandt wird.
Dammann (Dammann, G. Interaktionelle Methode und übertragungsfokussierte Psychotherapie. Forum Psychoanal 20, 314–330 (2004). https://doi.org/10.1007/s00451-004-0209-2) hinterfragt das Ziel der Nachreifung zu Ganzobjektbeziehungen durch die zumeist supportiv gehaltenen Antworten, die eher dyadische Wünsche verstärken statt zu Triangulierung anzuregen. Er hinterfragt auch die vermeintlich objektbeziehungstheoretische Konzeptgrundlage, die wenig mit dem konkret-interpersonellen Interventionsmodus korreliert.

Konflikt oder Struktur? Deuten oder Stabilisieren?

Die Ausarbeitung von Konzepten zu strukturellen Störungen hat zur Entstehung von zwei scheinbaren Gegensätzen geführt, Konflikt- vs. Strukturpathologie und Deuten vs. Stabilisieren. Die Unterscheidung zwischen Konflikt- und Strukturpathologie ist insofern relevant, als dass sie behandlungstechnische Konsequenzen nach sich zieht. Hier stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die Diagnose einer Strukturpathologie zur unmittelbaren und vielleicht einseitigen Behandlungsorientierung führen kann. Und genau dies stellt sich dann in der Fragestellung Deutung vs. Stabilisierung bzw. supportive Interventionen dar: kann Patient:innen mit ich-strukturellen Beeinträchtigungen ein aufdeckendes, Unbewusstes bewusst machen wollendes Vorgehen zugemutet werden, oder sind die therapeutischen Interpretationen psychischer Vorgänge, auch auf die Therapie- d. h. Übertragungsbeziehung bezogen, der falsche Ansatz?

Zur erstgenannten Dichotomie möchte ich Wolfgang Mertens zitieren:

„Mehr und mehr gehen KlinikerInnen dazu über, nicht mehr nur in Entweder-Oder-Kategorien zu denken, also entweder alle psychischen Beeinträchtigungen eines Menschen auf einen Mangel an Repräsentation zurückzuführen, auf Entwicklungstraumatisierungen oder auf symbolisierungsfähige, überwiegend im deklarativen Gedächtnis gespeicherte, neurotische Konflikte, die mit einem höheren Strukturniveau verbunden sind. Denn selbst bei Menschen mit einer gravierenden psychischen Störung, wie z.B. mit Panikattacken, finden wir neben den massiven Symbolisierungsdefiziten auch psychische Konflikte vor. Und ebenso kann man bei PatientInnen mit einem gut integrierten Strukturniveau von massiven Desymbolisierungen überrascht werden. Zudem bleibt im Auge zu behalten, dass – abgesehen von den Eindrücken und Folgen massiver Traumata – alle aufgezählten Phänomene eine kontinuierliche Überarbeitung auf nichtlineare und kontextabhängige Weise in den darauffolgenden Lebensabschnitten erfahren.“

Zur zweiten ebenfalls:

„Mehr und mehr hat sich auch die – allerdings bereits von Freud und Ferenczi ansatzweise vertretene – Erkenntnis durchgesetzt, dass eine psychoanalytische Therapie für jeden einzelnen Patienten und jede einzelne Patientin maßgeschneidert sein sollte im Sinne von ‚Legt die Lehrbücher oder die Manuale beiseite‘. ‚Multimodal‘ kann dann bedeuten, dass z.B. auch supportive Interventionen, die lange Zeit als antianalytisch galten, für eine psychoanalytische Therapie vorübergehend durchaus bedeutsam werden, weil sie den Bedürfnissen eines Patienten bzw. einer Patientin nach Sicherheit und Orientierung hinsichtlich seiner äußerst prekären Interaktionserwartungen zunächst einmal entgegenkommen, statt ihn durch eine eher abwartende und Raum gebende Haltung – die aber in einer späteren Phase der Behandlung durchaus wichtig und angezeigt sein kann – zusätzlich zu verunsichern. Dennoch bleibt als methodischer Common Ground das Bestreben, möglichst vielen, die Gesundheit des Patienten beeinträchtigenden unbewussten Vorgängen, die sich in ihm, aber auch zwischen ihm und seiner Therapeutin, seinem Therapeuten ereignen, zu einer größeren Bewusstseinszugänglichkeit zu verhelfen.“ (Beide Zitate aus: Senf, W., Broda, M., Voos, D. & Neher, M. (2019). Praxis der Psychotherapie: Ein integratives Lehrbuch (6. überarbeitete Aufl.). Stuttgart, Deutschland: Thieme.)

Auch Cord Benecke hat in seinem Artikel „Psychoanalytische Modelle und Behandlungskonzepte der Persönlichkeitsstörungen“ (Benecke, C. (2014). Psychoanalytische Modelle und Behandlungskonzepte der Persönlichkeitsstörungen. PiD – Psychotherapie im Dialog, 15(03), 36–39. https://doi.org/10.1055/s-0034-1388633) prägnant dargestellt, dass Stabilisieren und Deuten keine unvereinbare Gegensätze sind – sie können vielmehr flexibel und gemeinsam dem jeweiligen Geschehen angepasst verwendet werden -, und aufgezeigt, dass die weit verbreitete Auffassung, dass eine auch deutende Bearbeitung der Übertragung bei strukturell beeinträchtigten Patient:innen kontraindiziert sei, als nicht haltbar erscheint. (Ebenso positioniert auch sich o. g. Lehrbuch Psychodynamische Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen: „Patienten mit beeinträchtigten Objektbeziehungen sprechen gut auf deutende Techniken an, sodass die Annahme, supportive Verfahren müssten bei allen Patienten mit einer Borderline-Pathologie zur Anwendung kommen, nicht haltbar ist.“). Benecke postuliert die Übertragungsbeziehung als das Feld, auf welchem sich sowohl die strukturellen Auffälligkeiten als auch die dahinter liegenden Konfliktthemen und Affekte und deren Abwehr manifestieren. Gemäß seinem strukturdynamischen Vorgehen ist die Aktivierung unbewusster Aspekte (Wünsche, Affekte, …) der innere Kontext struktureller Auffälligkeiten.

Zum Abschluss

Die psychodynamischen Behandlungsmöglichkeiten von Menschen mit ich-strukturellen Störungen sind vielgestaltig: Kurz- oder Langzeittherapie, prozess- oder methodenorientiert, mehr oder weniger komplex. Eine gute Arbeitsbeziehung ist eine Grundvoraussetzung, allerdings kann die Therapiebeziehung auch von Spaltungsprozessen und negativen Übertragungen betroffen sein. Das Risiko, dass die Therapiebeziehung dies nicht überlebt, steht dabei im Raum, ebenso die Möglichkeit, dass die investierten Mühen (noch) nicht fruchten. Dennoch hat die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit ich-strukturellen Störungen eine hohe Bedeutung, vor allem da andere Behandlungsoptionen (z. B. Medikamente) keine hinreichende Alternative darstellen. Sie zählt sicherlich zu den anspruchsvollen psychotherapeutischen Vorhaben und kann sich schlussendlich für beide Beteiligten als eine wertvolle menschliche und existenzielle Erfahrung erweisen.

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