Bindungstrauma: Abhängigkeit, Selbstverlust und Näheangst

Einleitung: Gesunde und toxische Beziehungen

Der Begriff „Toxische Beziehung“ verbreitet sich zunehmend und wird Gegenstand alltäglicher und populärjournalistischer Auseinandersetzungen, ohne dass ihm jedoch bislang eine (eindeutige) wissenschaftliche Definition zugrunde liegt. Dennoch erfüllt er einen wichtigen Zweck, indem er nämlich auf die Existenz hochproblematischer Beziehungsmuster hinweist, die sich im zwischenmenschlichen Raum immer wieder neu konstellieren und eine krankmachende, schlimmstenfalls zerstörerische Wirkung entfalten. Diese kreisen vor allem um Abhängigkeit und emotionalen sowie körperlichen Missbrauch bei gleichzeitig empfundener Hoffnungs- und Ausweglosigkeit. In aller Regel gehen sie mit der Entwicklung psychischer und psychosomatischer Beschwerden einher. In diesem Blogbeitrag möchte das Phänomen schädlicher Beziehungen psychodynamisch beleuchten und das Thema wie im vorangegangenen Beitrag entlang der Rezension zweier Bücher, die ich wärmstens empfehlen möchte: „Triangulierung“ von Jürgen Grieser sowie „Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma“ von Franco Biondi, ausführen.

Das Ich wird an Du’s – und am Wir

Entwicklung ist ein dialektisches Wechselspiel von Verschmelzung und Spaltung, von Verbindung und Trennung, von Nähe und Distanz.1

Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag.

Eines meiner Lieblingszitate ist der Ausspruch „Das Ich wird am Du“ von Martin Buber. Im Zusammenhang mit diesem Beitrag muss man ihn allerdings anpassen, denn die exklusive oder problematische Zweierbeziehung (Dyade) kann die Entwicklung des Ichs auch blockieren, einschränken oder auslenken. Zur vollständigen und auf Autonomie ausgerichteten Ich-Entwicklung gehören nämlich auch Dritte dazu, also ergänzende Du‘s und letztlich auch das Wir in Form von Gruppenzugehörigkeit, was einengende (symbiotische) Dyaden relativiert. Des Weiteren ist auch das symbolische Dritte in Form von Bildern, Worten, Gedanken und Fantasien von Bedeutung.

In der frühkindlichen Entwicklung spielt sichere Bindung eine wichtige Rolle, wie ich in diesem Blog bereits dargestellt habe. Wir Menschen kommen unfertig zur Welt, sind „physiologische Frühgeburten“, unsere physischen und psychischen Fertigkeiten sind bei Geburt noch nicht voll ausgeprägt und benötigen für ihre Entwicklung die Unterstützung eines fürsorglichen „Hilfs-Ichs“: Schnell stellen sich in der frühkindlichen Situation aufgrund Überforderung mit sich selbst und der Umwelt Ängste, Frustrationen und Aggressionen ein, die ein haltgebendes Gegenüber erforderlich machen, das die heftigen Affekte aufnehmen und beruhigen („containen“) und auch die eigentlichen Bedürfnisse erkennen und beantworten können muss.

In dieser von Natur aus asymmetrischen Beziehung hat das Kind das Anrecht auf diese Fürsorge und die Bezugsperson die Verantwortung dafür. Donald Winnicott postulierte die „Ausreichend gute Mutter“ („Good enough mother“) als entwicklungsförderliche Voraussetzung für das Kind und markiert mit dieser Formulierung eine Abgrenzung zu perfektionistischen Vorstellungen; Irritationen kommen in der Mutter/Vater-Kind-Beziehung vor und tragen zu Entwicklung bei (Biondi: „In unkoordinierten Interaktionen, die »repariert« werden, übt der Säugling/das Kleinkind weiterhin ein, welche Strategien wann wirksam sind, um Resonanzzustände wiederherzustellen, innere und äußere Realität zu gestalten und mit sozialen Beziehungen umzugehen. Diese Prozesse ermöglichen dem Säugling/Kind, seine Selbstwirksamkeitsprozesse in den ersten beiden Lebensjahren in seinem sensomotorischen und emotionalen und danach auch im kognitiven Gedächtnis zu verankern.“2). Werden Irritationen nicht repariert und die negativen Affekte persistieren oder verstärken sich sogar, bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als auf die frühkindlichen Abwehrmechanismen der Paranoid-schizoiden Position, Spaltung und Projektion, zurückzugreifen (in meinem Beitrag zu den sog. Frühstörungen habe ich bereits darüber gebloggt).

Die Bedeutung von Melanie Kleins Konzept der Paranoid-schizoiden Position möchte ich auch hier nochmal hervorheben und zitiere Grieser: „Im paranoid-schizoiden Modus wird versucht, durch die Spaltung in gute und böse Anteile das Gute zu retten und das Böse auszublenden – die gute Brust der Mutter wird von der bösen, versagenden Brust abgespalten, womit zwei Vorstellungsdyaden entstehen, nämlich die gute Beziehung und die schlechte Beziehung, die voneinander getrennt gehalten werden müssen. Im depressiven Modus hingegen kann das Subjekt die guten und die bösen Anteile des Objekts integrieren und in ihrem Widerspruch aushalten – die Voraussetzung für jede Triangulierung. Der depressive Modus muss auch zur Verfügung stehen, wenn das Kind die ödipale Situation lösen und aushalten soll, Mutter und Vater nicht in Gut und Böse aufzuspalten, sondern als Elternpaar verbunden wahrzunehmen und sich selbst dem Paar gegenüber in einer exzentrischen Position zu erleben. Gelingt diese Anerkennung der Triade, so stellt dies einen qualitativen Sprung im Welterleben und in der psychischen Struktur des Kindes dar hin zu einer abgegrenzten inneren Welt, einem triangulären inneren Raum und einer umgrenzten Welt, »die es mit beiden Eltern teilt und in der verschiedenartige Objektbeziehungen möglich sind«“3

Zum Übergang von der Paranoid-schizoiden zur Depressiven Position trägt die sog. frühe Triangulierung bei: „Mitte des zweiten Lebensjahres benutzt das Kind die Beziehung zum Vater dazu, um Nähe und Distanz zur Mutter zu regulieren und die gewonnene Ablösung von ihr zu konsolidieren.“4 Dies begründet sich in der beziehungsdynamischen Bedeutung einer/eines Dritten: „Systemisch gesehen, hat der Dritte eine zweifache Funktion: Zum einen wird er benötigt, um eine dyadische Konstellation in einen größeren Kontext einzubetten und zu erweitern, zum anderen braucht es ihn auch, damit sich die Dyade gegen ihn konstituieren und abschließen kann.“5 Die/der Dritte relativiert und stabilisiert somit eine Zweierbeziehung, indem sie/er ihren Rahmen um ein alternatives Objekt ergänzt, das sowohl positiv als auch negativ besetzt werden kann und auf das Affekte und Bedürfnisse der Primärbeziehung umgelenkt und erweitert werden können. Hierdurch wird maßgeblich die Reifung zu Ganzheitlicher Objektwahrnehmung angeregt, die ein Kernmerkmal der Depressiven Position ist.

Im Rahmen dieser Entwicklungsschritte reifen Autonomie und Beziehungsfähigkeit gleichzeitig, und beide müssen vor dem Hintergrund eines lebenslang bestehenden Bindungsbedürfnisses zusammen gedacht und als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden. Damit geht auch die Befähigung zu Ablösung und (vorübergehender) Trennung einher, die möglich wird, weil bedeutungsvolle Dritte ins Seelenleben aufgenommen werden können und dieses nicht mehr auf eine alleinige Hauptfigur zentriert ist. Grieser formuliert: „Steht die Erfahrung der Triangulierung im Dreieck mit den eigenen Eltern zur Verfügung, dann können im Entwicklungsschritt der frühen Triangulierung auch Aggressions- und Trennungserfahrungen gemacht und bewältigt werden, weshalb im späteren Leben Trennung und Ent-Bindung nicht als destruktiv und todbringend fantasiert werden müssen.“6 Bindung und Autonomie brauchen letztlich auch nicht mehr in ihren Zerrbildern Verschmelzung und Verlassenheit erlebt werden, was eine Voraussetzung für die nächsten Entwicklungsschritte darstellt. In diesen ist das Einbringen eigener Bedürfnisse (z. B. Versorgung, Selbstwert, Begehren) dann der zentrale Aspekt, nicht mehr die grundsätzliche Existenzialität sicherer Bindung.

Bleibt diese Entwicklung hingegen aus, färbt der innere Konflikt um Abhängigkeit/Bindung vs. Autonomie alle späteren Beziehungen. Grieser stellt dies eindrücklich in Bezug auf Ödipalität und Paarbeziehungen dar: „In der frühen Triangulierung geht es um Autonomie und Abgrenzung, in der ödipalen Triangulierung darauf aufbauend darum, die eigenen Wünsche und das eigene Begehren in dyadischen Beziehungen einbringen zu können ohne Angst, den Dritten zu verlieren. Wer gegen die Verschmelzung in der Dyade kämpfen muss, weil er nicht dank genügend gut internalisierter Triangulierungen die Sicherheit hat, aus der Zweisamkeit wieder mit einem abgegrenzten Selbst heraustreten zu können, kann seine libidinösen Wünsche nicht verwirklichen. Solche Patienten erleben am Liebespartner elterliche Eigenschaften aus der präödipalen Zeit, die sie selbst damals vermisst hatten. Dies lässt nicht nur die Intimität in der Beziehung inzestuös gefährlich erscheinen, sondern beschwört auch die Gefahr der regressiven Auflösung des Selbst herauf. Mit dem Partner oder der Partnerin gibt es gute Gespräche, Verstehen und Verstandenwerden, Unterstützung, aber keine befriedigende sexuelle Intimität sowie ein böses Erwachen, wenn sich der Partner plötzlich, scheinbar ohne Vorzeichen, in jemand anderen »richtig« verliebt.“7 Das sich Einlassen auf eine/n bedeutsame/n Dritte/n soll dabei ausdrücklich in der dyadischen Primärbeziehung gefördert werden, was im gelebten Leben aber nicht immer der Fall ist, ob in Kindheit oder Erwachsenenleben. Letztlich ist die Befähigung zu Triangulierung ein wichtiger Baustein seelischer Gesundheit: „Unerlässlich für die gesunde Entwicklung des Kindes und den Aufbau der »strukturalen Triade« (Lang, 1999) in der inneren Welt des Kindes ist es jedoch, dass die Mutter anerkennt und auch psychisch dem Kind repräsentiert, dass es neben ihr bedeutungsvolle Dritte für das Kind gibt, die die Beziehung zwischen ihr und dem Kind beeinflussen und relativieren dürfen, und dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind eingebettet ist in eine triadische Grundstruktur gemäß der symbolischen Ordnung der umgebenden Kultur.“8

Ein weiteres Drittes, das die dyadische Beziehungsorientierung trianguliert, ist die Befähigung zu Symbolisierung, zum Bilder, Worte und Gedanken Entwickeln, die ein Reflektieren über sich selbst und die anderen und somit ebenfalls ein Heraustreten aus heftigen Affekten und Verschmelzungserleben ermöglichen. Fehlen die Möglichkeiten zur Symbolbildung und Reflektion, liegen ebenfalls präödipale Fixierungen vor: „Probleme der Symbolisierungsfähigkeit sind ein Kennzeichen der sogenannten frühen Störungen: Emotionale Inhalte und Handlungsimpulse können nicht symbolisch repräsentiert, das heißt gedacht, vorgestellt oder ausgesprochen werden. Ohne diesen triangulierenden Abstand, den die Symbolisierung schafft, ist keine Mentalisierung möglich und damit kann sich das Subjekt nicht seiner eigenen psychischen Situation bewusst werden und auf seine Impulse nicht verändernd einwirken, weshalb diese impulsiv ausagiert oder in andere Personen hineinprojiziert werden. Ist das Ich selbst von der Störung betroffen, kann dies zum Zerfall des dreidimensionalen psychischen Raumes mit den psychiatrisch beschriebenen Störungen der Ich-Konsistenz, der Ich-Demarkation und der Ich-Identität führen.“9

Die Fähigkeit des Mentalisierens, das ebenfalls Grundlage gelingender Beziehungen und psychischer Gesundheit ist, entwickelt sich im Rahmen feinfühliger, spiegelnder Beziehungserfahrungen mit einer vertrauensvollen Bezugsperson in der frühen Kindheit. Wer mentalisieren kann, kann eigene und fremde innere Zustände verstehen, ein zusammenhängendes Bild von sich selbst und anderen entwerfen und hierfür schließlich Symbole in den genannten Formen entwickeln, was im Ergebnis Selbstwirksamkeit im Umgang mit sich und anderen ermöglicht. Reflektieren wird somit zu einer eigenen Wirkmacht im zwischenmenschlichen Geschehen, oder wie Grieser ausführt: „Die Symbole und Gedanken, die die Bezugsperson als ein Drittes in die Beziehung zum Kind einführt, dienen nicht nur der Verarbeitung von affektivem Erleben im Prozess des Containments, in dem die Mutter dem Kind hilft, Affekte und Fantasien, die das Kind zunächst überfordern, zu entgiften und zu verdauen, sondern die Gedanken der Bezugspersonen selbst sind Erfahrungen, die das Denken des Kindes anstoßen: »das Denken muß entstehen, um die Gedanken zu bewältigen« (ebd.). In der semiotischen Triade Kind – Bezugsperson – Zeichen sind also nicht nur das Kind und die Bezugsperson, sondern auch die Symbole und Gedanken dynamische Wirkfaktoren.“10

Triangulieren durch sich Einlassen auf bedeutsame Dritte und das symbolische Dritte stellt also eine hoch bedeutsame seelische Errungenschaft dar. Sie nimmt ihren Ursprung im familiären Miteinander, wo Triangulieren entweder gefördert oder gehemmt wird. Im nächsten Abschnitt soll es um die pathologische Dyade, die Triangulieren verhindert, gehen, wohin ich mit einem Zitat von Biondi überleiten möchte: „Nach Baldwin (2002) lassen sich drei wesentliche »Merkmale einer gesunden Triade« ausmachen: – Jedes Familienmitglied hat die Freiheit, Ereignisse zu kommentieren und darauf zu reagieren, – jeder Einzelne in der Familie kann die Art und Weise, wie er Situationen erlebt hat, kundtun, ohne dass dem individuell Erlebten widersprochen wird, und – es gibt keinen Zwang zur Konformität. […] In symbiotischen Bindungssituationen ist jeder dritte Beteiligte ein Ausgeschlossener. Der Ausgeschlossene kann den Einzelnen der exklusiven Dyade nur schwer begegnen und fühlt sich zuweilen wie vor einer emotionalen Mauer stehend.“11

Die Psychopathologie der Dyade

Betrachten wir psychische oder psychosomatische Störungen, so stoßen wir bei den Patientinnen und Patienten häufig auf Schwierigkeiten, ausgewogene triadische Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten; wir stoßen auf fragile Triangulierungen, verzerrte Triaden, auf das Vorherrschen von dyadischen Erlebnis- und Beziehungsmodi oder symbiotischen Bedürfnissen sowie auf Probleme, mit der Umwelt und ihrer symbolischen Struktur konstruktiv zu interagieren. Da wir die Triangulierungsperspektive auf alle Störungsbilder anwenden können und damit oft zu einem zusätzlichen Verständnis und zu erhellenden Perspektiven für die therapeutische Praxis kommen, bin ich mit Hans Hopf der Meinung, dass es angebracht wäre, »die gesamte Krankheitslehre hinsichtlich eines triangulären Denkens neu zu überdenken und zu gestalten« (Hopf, 2014, S. 98).12

Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag.

Während sich neurotische Störungen im Dreieck Kind – Mutter – Vater, also triangulierten Mehrpersonensetting abspielen und konflikthafte Wünsche als dynamischen Kern haben, bilden sich psychosomatische Störungen in der Scheintriangulierung Selbst – Objekt – Körper ab13, also letztlich in einer künstlich erweiterten dyadischen Beziehungskonstellation, und Frühstörungen in der Scheintriangulierung Selbst – gutes Objekt – böses Objekt.

Präödipale bzw. dyadische Störungen gründen maßgeblich auf traumatischen Einflüssen. Biondi führt aus: „Aufgrund umfangreicher Forschungsarbeit und breiter Fachliteratur gilt es inzwischen als gesichert, dass Traumafolgestörungen bei Kleinkindern und Kindern erfolgen über: – körperliche, emotionale, kognitive und verbale Gewalt durch anwesende Bindungspersonen, – abwesende Bindungspersonen (Deprivation, Vernachlässigung, Verlusterlebnisse), – emotionalen Missbrauch (Verletzungen der Intimitätsgrenzen, Verhinderung der Autonomieentwicklung etc.).“14 Zu emotionalem Missbrauch zählt die symbiotische Dyade, die das physiologisch abhängige Kind gefangen hält und für eigene Zwecke missbraucht. Hier wird ein falsches Selbst im Kind errichtet, das nicht auf seinen eigenen Wünschen und Anlagen gründet. Der emotionale Humus des Kindes wird fremd gedüngt, umschreibt Biondi, wohingegen er z. B. bei Vernachlässigung ungedüngt bleibt15. Der Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson liegt ein Benutztwerden zugrunde: „Benutztwerden und emotionale Besetzungen liegen vor, wenn Kindern nicht als einem eigenständigen Gegenüber begegnet wird, das im Rahmen der natürlichen Bindungsfunktionen versorgt, gehalten, gerahmt, in seiner Autonomieentwicklung unterstützt und mit der Möglichkeit eines Rückzugsorts gestärkt wird, sondern als Objekt, das die Bindungsperson für ihre emotionale oder sonstige Versorgung braucht.“16 Diese Beziehungsstruktur definiert Biondi als (parasitäre) Symbiose, in der „Bindungsperson und Kind auf existenzielle Weise über die natürlichen Entwicklungsstufen hinaus voneinander abhängig bleiben, obwohl sie dies in ihrer jeweiligen individuellen Entwicklung behindert und mindestens eine Person von beiden versucht, vom anderen loszukommen“17. Dem Kind wird keine alternative Bindungsperson zur Verfügung gestellt, weshalb es im dyadischen Beziehungsgefängnis der Elternteil-Kind-Symbiose ohnmächtig und ausweglos eingesperrt bleibt. Dies führt zu bindungsbezogenen Traumafolgestörungen18.

Eindrucksvoll schildert Biondi, wie eine solche missbräuchliche Vereinnahmung bereits von früh auf das Wesen des Kindes vergiftet: „Das Erste, was ein Säugling in einer symbiotisierenden Bindungskonstellation erfährt, ist die Wiederholung des Erlebens der eigenen unsicheren Ich-Grenze, die er erstmalig im Augenblick der Geburt erfahren hat. Im Folgenden erlebt er körperlich und emotional, dass Fürsorge und Zuwendung nicht unterscheidbar von Benutztwerden und Manipulation sind. Nach und nach sammeln sein Körper und seine Emotionen die Erfahrung, dass emotionale und körperliche Zuwendungen in der zweisamen Beziehung nicht vorrangig auf das eigene Selbst gerichtet sind, sondern auf sein Im-Dienst-Sein und die Befriedigung des anderen.“19 Elternteile oder Bezugspersonen, die eine solche Beziehung zum Kind eingehen, haben meistens selber einen traumatischen Lebenshintergrund, nimmt Biondi an. Dieser kann entweder transgenerational weitergegeben worden sein oder auf der persönlichen Vernachlässigungserfahrung einer Bezugsperson beruhen20. Jedenfalls wehrt die Bezugsperson eigene Leeregefühle und Mangelerfahrungen durch die symbiotische Vereinnahmung des Kindes ab und zementiert die Beziehung mit impliziten Forderungen, die Biondi wie folgt prägnant in Worte fasst: „Du bist ein Teil von mir oder du bist mir fremd“ und „Wir beide gehören zusammen und die Welt außerhalb von uns ist fremd, bedrohlich und fern von uns zu halten“21. Hierin artikulieren sich sowohl ein Zwang zur Selbstaufgabe und Fremdbestimmung als auch ein paranoides miteinander Verschmelzen, in dem die Aggressionen und bösen Aspekte, die aus der symbiotischen Beziehung stammen, abgespalten und in die Welt projiziert werden.

Solcherart Entwicklungstraumata gehen mit Beeinträchtigungen der kortikalen und subkortikalen Vernetzung, der HPA-Achse und der Ich-strukturellen Entwicklung (z. B. im Hinblick auf Selbststeuerung, Nähe-Distanz-Regulation und Sozialverhalten22) einher. Die Fehlregulation der Stressachse führt zu körperlicher und emotionaler Betäubung bis hin zu Dissoziation23: „Dissoziation ist in stressvollen Bindungssituationen praktisch Bindungsabbruch. Das gilt sowohl für Vernachlässigungssituationen als auch für symbiotisierende Verletzungen der Intimitätsgrenzen. Insofern ist hier die Dissoziation der psychodynamische Versuch, Grenzüberschreitungen mental aufzuheben und das Selbst hinüberzuretten.“24 Auf körperlicher Ebene bestehen vegetative Störungen, die sich z. B. in Herzfrequenz oder Blutdruck abbilden, oder in Form dezidierter Krankheitsentwicklung: „Hautausschläge, Asthmaanfälle, Atemschwierigkeiten, Reizungen der Haut im Brustbereich, Magenbeschwerden artikulieren sich häufig vielleicht vor, vielleicht während, vielleicht nach symbiotisierenden Angriffen der verstrickenden Bindungspersonen.“25

Die beiden Stränge der frühen Triangulierung und Triangulierung durch Symbolisierung lassen sich den psychoanalytischen Schulen der Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie/Mentalisierung zuordnen. Wird auf der einen Seite der Übergang von der Paranoid-schizoiden Position zur Depressiven Position durch Vereinnahmung und Förderung von Spaltung statt Integration verhindert, wird auf der anderen Seite die Entwicklung reifer Mentalisierung und Reflektion durch ausbleibende Spiegelung und Implantation eines fremden Selbstes („Fremddüngen“) verhindert. Beides dient den Bedürfnissen des symbiotisierenden Objekts, dessen Motive wie erwähnt vermutlich aus eigener Traumatisierung stammen und mehr oder weniger unbewusst ausgelebt werden.

Die verhinderte Triangulierung begründet neben der Störungsanfälligkeit für psychosomatische und Traumafolgestörungen auch eine Disposition für Borderline- bzw. Persönlichkeitsstörungen und psychotische Erkrankungen. Maladaptive Beziehungsmuster persistieren bis ins Erwachsenenleben hinein und führen dort zu „Toxischen Beziehungen“, die die verinnerlichte Störungsdynamik immer wieder neu reinszenieren und am Leben erhalten. Pointiert schildert Grieser die Beziehungstragik von Borderlinepatient_innen, die durch Scheintriangulation in Gut und Böse aufspalten müssen: „Gelingt es dem Borderline-Patienten, eine Beziehung zu einem guten Objekt aufzubauen, so wird dieses schnell als omnipräsent erlebt und deshalb bedrohlich, was zur Trennung führen muss. Die Beziehung kann jedoch stabilisiert werden, wenn sich der Patient mit dem Partner gegen einen Dritten verbünden kann, der für das auf diese Weise abgewehrte Böse steht.“26 Das abgewehrte Böse, das in der/dem Betroffenen mit unerträglichen Emotionen zusammenhängt, wird mit dem Abwehrmechanismus der Projektiven Identifizierung in diese Dritten hineinverlagert. Dies entlastet die/den Borderlinepatientin/en und ihre/seine abgehängig ersehnte, nur-gute dyadische Beziehung, die ihrerseits wiederum auf wackligen Beinen steht und kollabiert, sobald das Böse nicht mehr abgewehrt und nach außen verschoben werden kann. Bei psychotischen Erkrankungen hingegen „droht der Mensch den Schutz eines mit den anderen Angehörigen seiner sozialen Gruppe geteilten »semiotischen Himmels« (Sloterdijk, 1998, S. 58), einer gemeinsamen Sinn- und Bedeutungshülle, zu verlieren.“27 Der triangulierende Rahmen gelingender Verständigung und Mentalisierung durch gemeinsame Symbole geht hier verloren, was den Rückzug in eine „Privatlogik“ nach sich zieht, in der die/der Psychotiker/in sich zum Schutz in realitätsferne Fantasien und Pseudologien verliert.

Therapie als Triangulierung

Doch das »Neue kommt immer zur Welt als Etwas, das frühere Symbiosen stört«28

Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., Peter Sloterdijk zitierend

Biondi positioniert sich deutlich, dass derart Schädigungen nicht kurzfristig aufzulösen sind: „Eine erfolgte Entwicklungstraumatisierung mit fortgesetztem emotionalen Missbrauch, Intimitätsgrenzverletzungen und dem Verbot, eine eigene Identität zu entwickeln, macht eine längerfristige psychotherapeutische Begleitung notwendig, vor allem aber eine Auseinandersetzung mit den aus dieser Traumatisierung hervorgegangenen Selbstanteilen.“29 Dies begründet sich einerseits in der Störungsschwere, die sie hinterlassen, und der damit einhergehenden Notwendigkeit, ihre oft umfänglichen Auswirkungen schrittweise zu erspüren, zu verbalisieren und von potentiellen neuen Erfahrungen abzugrenzen, andererseits in einem unbewusst oft ambivalenten Therapieanliegen: „Es kommt immer wieder vor, dass Klienten und Klientinnen mit einem Double-Bind-Auftrag in den therapeutischen Raum kommen. Verbal und kognitiv wollen sie die symbiotische Verstrickung auflösen, in der sie sich gefangen gehalten fühlen, emotional hingegen tragen sie in sich Selbstanteile, die täterimitierend mit dem Symbiotisierenden verwoben sind.“30 Dies bezieht sich nicht nur auf die ursprünglichen symbiotischen Verstrickungen in der Herkunftsfamilie, sondern auch deren Wiederholungen in Gegenwartsbeziehungen, die oft demselben Muster unterliegen. Hier kann die psychotherapeutische Arbeit auch an Grenzen stoßen oder gänzlich zum Erliegen kommen, „wenn der Klient noch nicht willens und/oder noch nicht in der Lage ist, den symbiotisierten Traumakäfig so lange auszuleuchten, bis er den Ausweg erkennen und sich dazu entscheiden kann, ihn zu verlassen oder nicht.“31

„Wahrnehmen, Benennen, Symbolisieren und anschließend die Integration dieser wachsenden Mentalisierungskompetenz über die Identifikation mit der containenden und triangulierenden Funktion des Therapeuten stellen Grundbausteine der Therapie dar.“32 Dafür stellt die/der Therapeut/in den triangulierten und triangulierenden therapeutischen Rahmen zur Verfügung, der auf eine Entsymbiotisierung zielt33 und in dem er/sie als Übertragungsfigur für alte und als reales Objekt für neue Beziehungserfahrungen zur Verfügung steht34. Im gelingenden Fall identifiziert sich die/der Patient/in zunehmend mit der reflexiven Funktion der/des Therapeutin/en und kann diese selbst übernehmen35. Hierdurch finden eine Entsomatisierung, Überführung von Impulsivität in Reflexivität und Öffnung vom Dyadischen ins Triangulierte statt36. Dies gilt für psychotherapeutische wie körpermedizinische Prozesse gleichermaßen: „Interessiert der Arzt sich hingegen nicht für Sinn und Bedeutung der Symptomatik und kümmert sich ausschließlich um die somatische Beseitigung des Symptoms, dann stellt er sich nicht als triangulierendes Objekt zur Verfügung, sondern zwingt den Patienten im Extremfall, sein Symptom gegen alle Behandlungsversuche aufrechtzuerhalten […] oder ein anderes Symptom zu kreieren.“37

Die psychotherapeutische Einzelbehandlung stellt ihrerseits eine dyadische Beziehung dar. In Abgrenzung zu erlittenen symbiotischen Vereinnahmungen zielt sie auf Autonomieentwicklung, Triangulierung und Mentalisierung. Nicht immer jedoch lassen sich dyadische bzw. präödipale Fixierungen in der psychotherapeutischen Einzelarbeit hinreichend auflösen und bearbeiten. In diesen Fällen sollten ergänzend die psychotherapeutischen Behandlungsformen im Mehrpersonensetting, so v. a. die Gruppenpsychotherapie und (teil-)stationären Behandlungen, erwogen werden, die ihrerseits stark triangulierungsförderlich wirken.


  1. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 25
  2. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 55
  3. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 18-19
  4. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 16
  5. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 69
  6. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 30
  7. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 51
  8. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 45
  9. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 74
  10. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 37
  11. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 89
  12. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 71
  13. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 79
  14. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 51
  15. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 59
  16. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 48
  17. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 36
  18. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 65
  19. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 48
  20. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 47
  21. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 98-99
  22. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 52
  23. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 58
  24. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 60
  25. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 81
  26. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 88
  27. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 92
  28. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 26
  29. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 119
  30. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 172
  31. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 167
  32. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 113
  33. Biondi, F. & Nijenhuis, E. (2021). Symbiotische Strickmuster zwischen inniger Liebe und Entwicklungstrauma: Psychodynamik und Behandlung (1. Aufl.) [E-Book]. Vandenhoeck & Ruprecht., 156
  34. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 100
  35. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 109
  36. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 95
  37. Grieser, J. (2015). Triangulierung (Analyse der Psyche und Psychotherapie) [E-Book]. Psychosozial-Verlag., 97